Zwischenhalt auf 2233 Meter über Meer

Halt auf dem Pass: Blick auf das Ospizio La Veduta. (Foto: Jano Felice Pajarola)

Zu Besuch im «Ospizio La Veduta» auf dem Julierpass
Man findet sie fast auf allen Passhöhen: Hospize, die einst Pilgern und Fremden Unterkunft boten. Heute sind sie Restaurants oder gar Hotels. Noch immer aber machen Durchreisende an diesen Orten gerne Halt. Zum Beispiel auf dem Julierpass im «Ospizio La Veduta», wo Ramis Rizvanovic und Sonia Slysova ihre Gäste verwöhnen.
Text 
Maya Höneisen

Gemäss der Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz im 19. Jahrhundert bedeutet das Wort Pass einen «engenbeschwerlichen Weg, besonders aus einem Land in ein anderes» oder, anders interpretiert, von einem grossen Kultur- und Sprachraum in einen anderen. So wie der Julierpass. Ihn nutzten schon die Römer. Sie holperten mit hochach­sigen Karren durch die unwirtliche Berglandschaft von Norden nach Süden und zurück. Nach dem Ausbau durch den Kantonsbaumeister Richard La Nicca Anfang des 19. Jahrhunderts reisten Erholung suchende Gäste mit echten Pferdestärken über die neue Strasse ins Engadin. Halt gemacht wurde in Mulegns, wo die noble Herrschaft im Hotel «Löwe» nächtigte. Heute liegen die Pferdestärken unter der Kühlerhaube, und an manchen Tagen wälzt sich eine veritable Blechlawine süd- und nordwärts. Wer keine Eile hat, macht oben eine Rast, lässt sich von der imposanten Bergwelt, im Sommer vom zauberhaften Lej da las Culuonnas und im Winter von meterhohen Schneebergen, beeindrucken – und kehrt bei Ramis und Sonia im «Ospizio La Veduta» ein.

 

Das Ospizio La Veduta. (Foto: zVg)

Auf den Weltmeeren unterwegs

Ein gemütlicher Gastraum, rot-weiss karierte Tischdecken, Kissen mit Herzen auf den Sitzbänken, arvengetäferte Wände. An einen Tisch sitzen Mitarbeitende des kantonalen Tiefbauamts beim Kaffee, am nächsten wehren zwei Motorradfahrer mit Schnitzel und Pommes frites dem Hunger. Sonia steht hinter dem Tresen. Sie stammt aus der Slowakei, arbeitet und lebt aber schon viele Jahre in der Schweiz. «Ich bin gerne hier oben, vor allem im Sommer», erzählt sie. Hektik und Lärm einer Stadt vertrage sie nicht. Sie geniesse diese Atmo­sphäre auf dem Pass.

Es ist an einem Wochentag kurz vor Ostern. Die Ruhe vor dem Sturm? «Ja», sagt sie, «in den kommenden Tagen wird noch einiges los sein bei uns.» Dem sieht sie aber gelassen entgegen. Genauso wie ihr Lebenspartner Ramis, der nun aus der Küche kommt. Er ist gebürtiger Bosnier und im Vorarl­bergischen aufgewachsen. Da absolvierte er eine vierjährige Lehre als Koch und Kellner, die er mit Auszeichnung abschloss. Eine anschliessende Ausbildung in Wien, die ihn in seinem Beruf hätte weiterbringen sollen, schmiss er und heuerte stattdessen als Koch auf einem Kreuzfahrtschiff an. In Barbados schiffte er mit einem sechsmonatigen Vertrag in der Tasche ein. «360 Mitarbeitende, 720 Gäste, ein Fünf-Sterne-Plus», erklärt er. Das Personal stammte aus der ganzen Welt. «Da gabs jeweils Partys, die man sonst nirgends erlebt», meint er schmunzelnd. Obwohl: «Man lebt und arbeitet auf kleinstem Raum zusammen. Das heisst, es gibt strikte Regeln, fast wie im Militär. Ein anstrengender Job.» Nach seinen Reisen per Schiff um die Welt landete Ramis für zwei Sommersaisons in Andermatt. Den Winter verbrachte er in Samnaun. In Bregenz eröffnete er anschliessend mit seiner damaligen Partnerin sein eigenes Kaffeehaus. Die Beziehung habe leider der Arbeitsbelastung nicht standgehalten, bedauert Ramis. Also zog sie weiter nach Davos, er nach Florida, wo er ein kleines Restaurant aufbaute. «Florida war aber nichts für mich, immer nur Sonne, Sonne, Sonne. Irgendwann war das langweilig. Ich sehnte mich nach dem Wechsel der Jahreszeiten», blickt er zurück. Also wieder retour nach Europa, genauer gesagt nach Dornbirn als Restaurantleiter.

 

e Gastgeber Sonia Slysova und Ramis Rizvanovic lieben das Leben und ihren Job auf dem Pass. (Foto: Maya Höneisen)

Vom Fernen Osten ins Bergdorf

«Would you like to work in Shanghai?» Einer seiner fernöstlichen Dornbirner Gäste stellte ihm eines Tages diese Frage. Warum nicht, überlegte sich Ramis und fand sich alsbald in der Millionenstadt wieder. Da lernte er einen Schweizer Galeristen kennen, der ihn bat, mit ihm zusammen in Schanghai eine Restaurantkette aufzubauen. Als besonderes Projekt wollten die beiden eine orthodoxe Kirche zum Restaurant umbauen. Mitten in dieser Aufbauarbeit reiste Ramis nach Hause – und blieb. Warum er nicht wieder zurückkehrte in den Fernen Osten, obwohl er das vorhatte, kann er heute nicht erklären. Nur so viel: Sein Partner in Shanghai wurde später erschossen. «Wäre ich zurückgekehrt, hätte es mich ebenfalls treffen können. Vielleicht war es eine Vorahnung», meint er. Er blieb also und übernahm in Bregenz eine Bar. «Das Nachtgeschäft war aber auch nichts für mich», stellte er fest. Er heiratete, löste sich auf Wunsch von seiner Frau vom Gastgewerbe und fand einen Job im Aussendienst. Die Scheidung kam, als seine Tochter 11-jährig war. Dann lernte er Sonia kennen. Sie arbeitete zu dieser Zeit im Sommer in Rorschach, im Winter in Bivio. «Na gut, für einen Winter mach ich das», erklärte er sich mit ihrem Wunsch einverstanden, sie ins Bergdorf am Fusse des Juliers zu begleiten.

 

Schlafen auf 2233 m ü. M. Wer will, kann sich in einem der Gästezimmer erholen. (Foto: zVg)

Den Platz gefunden

Bivio wirkte nachhaltig, das sollte sich bald heraus­stellen. Als die Pacht des «Ospizio La Veduta» ausgeschrieben wurde, fuhren die beiden für eine
Besichtigung auf den Pass. «Ich trat durch die Türe und wusste, das ist das Richtige für mich», erzählt Ramis. Im April 2016 bekamen Sonia und er den Zuschlag für den Beherbergungsbetrieb. «Es ist wun­derschön hier oben», fügt er nun an. Weder gute noch schlechte News aus aller Welt interessieren ihn noch. «Ich geniesse die Ruhe, die Berge und die wechselnden Jahreszeiten.» Anfangs hätten sie vor allem Deutsche Gäste gehabt, meint er nach einer Pause. Nun seien es mehrheitlich Schweizer, die vom Essen in der «Veduta» überzeugt seien. Offenbar denkt er aber an mehr als Deutsche und Schweizer. Denn gleich darauf sagt er: «Es ist unglaublich, was da alles drüberkreucht.» An Nationalitäten aus aller Welt mangelt es nicht. Auch an der Auswahl der fahrbaren Untersätze nicht: Motorräder, Bikes, Autos aller Marken, Oldtimer, Traktoren und selbst eine Pferdekutsche haben Ramis und Sonia schon vorbeiholpern sehen. Ihnen solls recht sein. Sie lieben den Pass, «ihre» «Veduta» mit Gästen aus aller Welt und ihr Leben auf 2233 m ü. M. Wegziehen? «Nein, wir bleiben.»

 

Einst war es ein römischer Passübergang. Heute führt eine gut ausgebaute Strasse am Lej da las Culuonnas vorbei Richtung Süden und umgekehrt. (Foto: bilder.GR)

Weitere Infos
Ospizio La Veduta

Das Hospiz wurde komplett renoviert und erstrahlt seit Dezember 2013 in neuem Glanz. Nebst dem gemütlichen Restaurant mit gutbürgerlicher Küche stehen Gästen ein 6-Bett-, ein 4-Bett- und Doppelzimmer für die Übernachtung zur Verfügung. Eine Sauna, ein kleiner Seminarraum und eine grosse Panoramaterrasse ergänzen das Angebot. www.laveduta.ch