Grosse Kunst im kleinen Haus

Emil Guts Ölminiaturen im Kontext der Museumsausstellung.

Eine Ausstellung im Talmuseum St. Antönien
Die Hafner-Dynastie Lötscher aus St. Antönien schuf im 19. Jahrhundert eine Vielzahl hochwertiger Keramikobjekte. Während diese im rätischen Museum in Chur zu sehen sind, versucht das Museum von St. Antönien einen zeitgenössischen Zugang zum Thema. Mit hochkarätigen Kunstschaffenden.
Text 
Julian Reich
Bilder 
Ralph Feiner

Das Ortsmuseum von St. Antönien unterscheidet sich auf den ersten Blick wenig von anderen Museen seiner Art. Eher unscheinbar von aussen liegt es im alten Postkeller des Orts, direkt an der Dorfstrasse. Zumindest bis vor Kurzem zeigte es auch vor allem jene Art Objekte, die man in einem klassischen Ortsmuseum erwartet: landwirtschaftliche Geräte wie Heugabeln und Sensen, Butterfässer und Melkeimer, Spinnräder und Webstühle. Doch St. Antönien war eben auch Heimat einer aussergewöhnlichen Kunsthandwerkerfamilie. Gemeint ist die Lötscher-Dynastie, die während vier Generationen an diesem Ort Keramiken herstellte, Becher, Tassen, Weinkannen, Kaffeekannen, Töpfe, Wandbrunnen, Handwaschbecken und Teller.

Die Lötscher-Keramik nahm schon bald nach der Aufgabe des Handwerkbetriebs zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in private und öffentliche Sammlungen, etwa im Landesmuseum Zürich oder im rätischen Museum in Chur. Dort, im rätischen Museum, ist seit Kurzem eine Ausstellung unter dem Titel «Lötschers Kacheln» zu sehen. Diese bezieht sich auf die akribische wissenschaftliche Aufarbeitung der Werke, die der Archäologe Andreas Hege in den letzten Jahren geleistet hat.

 

Zeitgenössische Kunst im Dialog mit Objekten des Talmuseums: Miguela Tamos «Hörner für St. Antönien».

Die Kuh und die Landschaft

In Chur gibt es also eine grosse Lötscher-Schau. Aber auch in St. Antönien wollte man nicht abseits stehen, sagt Jann Flütsch. Und so fragte der Prä­sident der Kulturgruppe des Tals den Künstler Hans Danuser an. Der inZürich lebende Bündner Fotograf verbringt seit einigen Jahren einen Teil seiner Zeit in St. Antönien, wo er auch künstlerisch tätig ist. Etwa unter dem Titel «Veh-Landschaften im Hochtal St. Antönien», einer Langzeitstudie zum Thema Arbeit und Wertschöpfung im hochalpinen Raum.

Danuser war sofort angetan, und schon bald war klar, dass noch wei­tere Künstler mit direktem Bezug zu St. Antönien mittun sollten. Denn das Tal hat sich in den letzten Jahren zu einem Rückzugs- und Arbeitsort für eine ganze Reihe von Kunstschaffenden entwickelt. Da ist etwa Andres Lutz, der als Teil des Künstlerduos Lutz/Guggisberg seit einiger Zeit schon erfolgreich im Kunstbereich tätig ist. Oder Klodine Erb, ebenfalls international bekannt und während mehrerer Monate im Jahr in St. Antönien zugegen. Oder die einheimische Scherenschnittkünstlerin Monika Flütsch.

Diese waren also gesetzt. Nur: Ein Kurator sollte noch engagiert werden, fand Danuser. Und wurde fündig bei Gabriele Lutz, die lange in Zürich eine Galerie betrieb und zuletzt unter an­derem am Bündner Kunstmuseum in Chur an einer Ausstellung beteiligt war.

Etwas anderes war auch gesetzt: eine Kuh aus der Fabrikation von Christian Lötscher, dem die gehaltvollsten Arbeiten aus der Familienwerkstatt zugeschrieben werden. Ein einheimischer Sammler wollte sie zur Verfügung stellen, und so ist das Objekt nun exklusiv in St. Antönien zu sehen, während sich das rätische Museum gewissermas­sen mit der Gussform zufriedengeben muss.

Das Künstlerfeld wuchs bald einmal an. Man lud Christian Bolt, den Skulpteur aus dem Prättigau, hinzu; das Künstlerpaar Gerber/Bardill, ebenfalls aus der näheren Umgebung; ebenso Miguela Tamo, Ursula Palla, Agatha Zobrist, Emil Gut und Roman Signer. Alle sollten sie eine Arbeit beisteuern, die auf das Thema Kuh, den Ort oder die Landwirtschaft im Allgemeinen reagiert.

 

Dem Rindvieh auf den Fersen

Wer ab der Eröffnung am 16. Juni das Talmuseum von St. Antönien betritt, der trifft nicht mehr als erstes auf Heugabeln, Sensen und Melkkübel. Stattdessen auf eine Installation von Hans Danuser. Er ist, quasi auf den Fersen der Lötscher-Kuh, durch die Kunstgeschichte gestreift und hat Darstellungen von Kühen und von landwirtschaftlichen Tätigkeiten zusammengestellt. Wie in einem klassischen Museumsshop wird man nun mit einer Reihe von Postkarten konfrontiert, die sich auf die eine oder andere Weise mit der Kuh und ihrer mythologischen, aber auch alltagsgeschichtlichen Bedeutung auseinandersetzt – von Picassos Guernica über früh­zeitliche Höhlenmalereien bis zu Rudolf Kollers Gotthardpost. Gleich davor drehen sich käuflich erwerbbare Postkarten anderer Art auf einem Gestell. Danuser zeigt hier einige Arbeiten aus seinem erwähnten Zyklus über die alpine Landwirtschaft. Er hat Jungvieh beim winterlichen Auslauf fotografiert oder Milchkühe bei der Sömmerung auf der Wiese. Und zeigt so, wie dieses Tier im Zusammenspiel mit der Landschaft steht, wie sie beide voneinander abhängen und sich beeinflussen. Es sind, wie gesagt, «Veh-Landschaften».

 

Achtung: nicht zubeissen

Ebenfalls gleich beim Eingang findet man einen Raum, der von zwei Künstlerinnen bespielt wird, Ursula Palla und Agatha Zobrist. Beide beschäf­tigen sich auf ihre Weise mit eher der Frau zugeschriebenen Tätigkeiten. Pallas Installation besteht aus Lötscher-Töpfen, die zur Färbung von Kleider – beispielsweise nach einem Trauerfall – verwendet wurden. Diese wurden jeweils über Tage in einen Sud aus pflanzlichen Färbemitteln eingelegt. An der Wand hängt der bronzene Abguss einer winterlichen Wiese. Wer botanisch beschlagen ist, erkennt noch gewisse Pflanzen und Pilze. Genau hinschauen muss man auch bei Agatha Zobrist. Sie hat Rosinen, wie sie früher vielfach zur Süssung von Nahrungsmitteln verwendet wurden, wie kleine Tiere angeordnet. Nur sind die Rosinen nicht etwa essbar, sondern aus Keramik seriell hergestellt – gewisse sind also identisch.

Damit klingt ein zweites Thema an, das sich durch die Ausstellung zieht und schon bei Danuser auftauchte. Wie die Lötschers mit Originalformen ihre Keramiken in Serie herstellten, hat auch Zobrist mehrere Kopien hergestellt, und Danuser stellt nicht die Originale seiner Fotografien aus, sondern verkleinerte Abzüge. «Die Ausstellung beschäftigt sich durchaus auch auf einer tieferliegenden, strukturellen Ebene mit dem Werk der Lötschers», so Danuser. Am deutlichsten wird dies bei Christian Bolt, der eine Büste nach Fotografien von Christian Lötscher hergestellt hat und sie zugleich mit den Negativformen zeigt.

 

Blick auf Roman Signers Beitrag an die Ausstellung.

Die Sicht der Kuh

Während der Zufall bei den Lötschers möglichst ausgeschlossen sein musste, gehört er bei Roman Signer quasi zum Koproduzenten seiner Kunst. Der Appenzeller Künstler macht immer wieder mit eigenwilligen Aktionen auf sich aufmerksam. Unter dem Titel «Fass mit Kamera» tat er 1999 ebendies: Er steckte eine Kamera in ein Fass und liess sie einen Hang hinunterrollen. Aus dem Film destillierte er mehrere Stills, die nun grossformatig an einer Wand des Museums hängen. «Ich habe bei diesem Thema sofort an Signer gedacht», sagt Kuratorin Lutz. Signer lieh die Werke daraufhin auf unkomplizierte Weise aus. «Was mir gerade an dieser Arbeit besonders gefällt, ist, dass wir quasi aus der Perspektive der Kuh auf die Wiese schauen», so Lutz weiter. Neben der erwähnten Arbeit und einem Still aus dem Werk «Helikopter mit Fass» ist Signer zudem mit einem Video präsent, das ihn in einem Kajak zeigt – gezogen von einem Auto, verfolgt von einer Kuhherde.

Wer Klodin Erbs Werke entdecken möchte, muss aufmerksam durch die Ausstellung gehen. Sie hat verschiedene Museumsexponate, vor allem solche aus dem Hausgebrauch, malerisch in Szene gesetzt und die kleinformatigen Bilder mit einer Lackschicht überzogen. Diese sind nun an verschiedenen Stellen zu finden und verweisen jeweils auf ihr Original – wie ein Memory-Spiel, wovon die Arbeit auch ihren Titel bezieht.

Spielerisch ist wie so oft auch der Zugang von Gabriela Gerber und Lukas Bardill. Das Künstlerpaar aus Schiers hat sich in ein Objekt verguckt, das wie eine städtische Villa aussieht – letztlich aber ein Schreibgeschirr ist, in dem sich Utensilien wie Feder, Tintenfass und eine Taschenuhr verstauen lassen. Eine Videoprojektion erweckt das Haus nun zum Leben.

Im Hauptraum des Museums gruppiert sich sodann alles um das zentrale Objekt der Ausstellung: um die Kuh aus der Lötscher-Manufaktur. Diese diente einst als schmückender Aufsatz auf einem Kachelofen. Für Kuratorin Lutz ist dieser Umstand ein Schmunzeln wert. Nicht etwa eine schöne Frau oder schmucke Blumen sollten den Ofen zieren, sondern eine Kuh. «Es ist auch ein Hinweis darauf, welche Bedeutung diesem Tier in dieser Gegend und dieser Zeit zukam.»

Eine hübsche ironische Pointe macht da Hans Krüsi, der einzige bereits verstorbene Künstler, der in der Ausstellung vertreten ist. Der Zürcher Art-Brut-Künstler collagierte mehrere Milchtüten aneinander und bemalte sie mit einer Reihe von Kühen, als wäre es ein Alpaufzug. Man kann dabei an die
industrielle Verwendung von Milch denken, die zu einem immer gleich schmeckenden Nahrungsmittel homogenisiert wird – oder sich einfach an Krüsis Spielerei erfreuen.

Mit hintergründigem Witz bestechen auch Andres Lutz und Emil Gut. Ersterer hat aus Holzresten eine Blumen­wiese vor das Fenster gezaubert, die, so vermutet es der Künstler selber scherzhaft, vielleicht von einer Schulklasse auf Anregung eines eifrigen Unterländer Lehrers angefertigt wurde. Und Gut hat für seine kleinformatigen Ölbilder absurde Situationen kreiert. Er stellt einen Lötscher-Ofen in die Landschaft, damit sich eine Kuh darauf wärmen kann. Oder er malt einen Bauern, der mit seinem Pferd Mist ausbringt – nur fallen statt Dünger Keramikscherben aus den Kesseln.

Miguela Tamo wiederum hat ihren Beitrag in einem Nebenraum des Museums untergebracht. Auf einem Tisch, flankiert von wenigen Gerätschaften wie Heugabeln und Sensen, liegen zwölf Kuhhörner, jedes einzeln geformt und in Porzellan ausgeführt. Das «weisse Gold», wie es auch genannt wird, verleiht dem für Kühe zumindest früher charakteristische Körperteil eine feierliche Würde und Kostbarkeit. Und dies in Zeiten, in denen die meisten Grossvieheinheiten, wie die Kuh auch genannt wird, in jungen Jahren ihrer Hörner verlustig werden; das Sicherheitsbedürfnis des Menschen will es so. «Hörner für St. Antönien» nennt Tamo ihre Arbeit.

So gehaltvoll die Ausstellung ist, so zurückhaltend geht sie letztlich mit dem Ort um, an dem sie stattfindet. «Es war uns ein Anliegen, den Ort zu respek­tieren und nicht etwa ein Kunstevent daraus zu machen», erklärt Danuser. Die Künstler mussten also einen Weg finden, mit dem beschränkten Platz umzugehen, anders als man es heute vielfach gewohnt ist, wenn man in grossen Galerien oder Museen ausstellt. Entstanden ist, um mit den Worten der Kuratorin Gabriele Lutz zu sprechen, eine Preziose von einer Ausstellung.

Als besondere Preziose stellt sich abschliessend das Werk von Monika Flütsch dar, ein Papierschnitt, der in filigransten Linien die verschiedenen Stufen der St. Antönier Landwirtschaft zeigt: vom Dorf über das Maiensäss bis hoch zu den Alpen.

 

Stufenwirtschaft in filigraner Ausführung: Monika Flütschs Papierschnitt «Alpentladung Ascharina».

Die Lötscher-Kuh, die der Ausstellung Pate stand.

Weitere Infos
St. Antöniens Hafner-Dynastie

Was ihn genau dazu bewog, eine Keramikwerkstatt zu eröffnen, weiss man heute nicht mehr. Zumal Peter Lötscher zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als 20 Jahren zurück war aus seinem Soldatendienst in Holland, wo er das Handwerk vermutlich erlernt hatte. Auf jeden Fall legt er 1804 den Grundstein zu einer Dynastie, die alles Mögliche erleben sollte zwischen Erfolg und Katastrophe.

Im Prättigau sind die Lötschers lange die einzigen Hafner weit und breit. Voraus­planend teilt Peter Lötscher später seinen Besitz unter den beiden Söhnen auf. Hans bleibt Landwirt auf der Mittleren Rhonegga, Andreas verlegt die Hafnerei 1810 an den Talweg. Bis zu Peters Tod 1818 arbeiten Vater und Sohn in einer Werkstattgemeinschaft und beliefern die lokalen Märkte der Region.

Wo Andreas Lötscher 1806 seine Hafnerlehre abschliesst, ist nicht bekannt. Er kauft das Haus und die Werkstatt auf der Rhonegga und gründet mit Barbara Hartmann eine Familie mit vier Söhnen und drei Töchtern. 1810 baut er das Hafnerhaus auf der Stelli am Talweg in Ascharina. Während der Werkstattgemeinschaft mit seinem Vater ist die Zusammenarbeit offensichtlich eng, denn die Dekorhandschriften der beiden lassen sich kaum auseinanderhalten. Danach führt Andreas bis etwa 1843 die Hafnerei allein. In dieser Zeit entstehen weitere mit dem Pinsel verzierte Kachel­öfen. Andreas Lötscher setzt die Form- und Dekortraditionen seines Vaters fort.

Andreas Lötschers Sohn Christian lässt sich in Horgen zum Hafner ausbilden. Ab 1843 übernimmt er die Werkstatt, in der sein Vater Andreas weiterhin mitarbeitet. Christian professionalisiert den Betrieb und führt eine Reihe von Neuerungen ein: Er dekoriert mit dem Malhorn statt dem Pinsel und verziert den grössten Teil seiner Ofenkacheln mit grünem Schablonen­dekor. Selbstbewusst signiert er erstmals seine Produkte mit den Initialen C L. Besonders originell sind Christian Lötschers Kachelofenaufsätze aus gemodelten Tierformen.

Christian Lötscher, der Kachelöfen im ganzen Prättigau zwischen Davos und Landquart setzt, beschäftigt auch Gesellen in der Werkstatt und ist als Unternehmer finanziell erfolgreich. Im April 1867 übergibt Christian die Werkstatt seinem Sohn Peter.

Peter Lötscher d. J. macht vermutlich bei seinem Vater eine Lehre und wirkt von 1864 bis 1871 als Hafner. Er bemüht sich, es seinem Vater als Hafner, Röhren- und Kachelofenproduzenten gleichzutun. Jedoch besitzt er offenbar weder das Talent noch das wirtschaftliche Geschick seines Vaters. Peter weicht diesem Konflikt aus, indem er 1871 zusammen mit seiner Frau Magdalena Luck nach Amerika auswandert.

Mit der Auswanderung von Peter d. J. bleibt Christian Lötscher ab 1871 zunächst nichts anderes übrig, als die Werkstatt erneut selbst zu übernehmen, denn sein jüngster Sohn Andreas ist zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre alt. Zwischen 1872 und 1879 produziert Christian weiterhin erfolgreich Öfen und Röhren, während das Spektrum an Gebrauchsgeschirr stärker eingeschränkt ist, als in seiner ersten
Produktionsperiode.

Mit Christians Tod übernimmt 1880 sein Sohn Andreas Lötscher d. J. als fünfter Hafner in St. Antönien die Werkstatt. Sein Schaffen fällt in eine wirtschaftliche Umbruchzeit. Er produziert überwiegend Röhren. Von seiner Hand sind keine Kachel­öfen bekannt und seine wenige Geschirrkeramik ist ausschliesslich in das Jahr 1891 datiert. Der Ausbau der Prättigauer Talstrasse 1860 und der Rhätischen Bahn 1889/90 reduziert die Transportkosten für auswärts industriell her­gestellte Keramikprodukte. Geschirr und Ofenkacheln werden wieder hauptsächlich importiert – wie 100 Jahre zuvor.

1910 zerstört ein Hochwasser Teile der Werkstattgebäude und der Maschinen. Andreas Lötscher verkauft das Hafnerhaus in Ascharina 1920 und stirbt 1933.

Quelle: Rätisches Museum, Chur.