Wer war der Waltensburger Meister?

Die Schutzmantel-Madonna in der Kirche Sogn Gieri, Rhäzüns. (Foto Yanik Bürkli)

Wenn ein Name aus der Not entsteht Die Frage nach der Identität des Künstlers, der an unterschiedlichen Orten Graubündens seine Spuren hinterlassen hat, ist noch immer nicht leicht zu beantworten.
Text 
Horst F. Rupp

Sowohl die heutigen Besucher der Waltensburger Kirche und der anderen Orte seines Wirkens wie auch die Forscher, die sich mit dem Werk des Waltensburgers intensiv beschäftigen, treibt die Frage um, wer denn dieser Künstler war, der neben manch anderem auch dieses ungemein beeindruckende Werk in der Kirche des recht abgelegenen Orts Waltensburg geschaffen hat. Der Name, den wir ihm heute beilegen, signalisiert jedoch schon, dass es nicht einfach ist, eine konkrete historische Person zu identifizieren, die hinter diesem Werk steht – weshalb wir eben den Notnamen «Waltensburger Meister» verwenden. In den Jahren vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist das Werk dieses Künstlers wieder neu entdeckt und als zusammenhängendes Œuvre identifiziert worden. An knapp zwanzig Orten in Nordbünden finden sich diese Kostbarkeiten, insbesondere in Kirchen und Kapellen, also an sakralen Orten. Das einzige profane Werk, das sich dieser Kunstwerkstatt zuordnen lässt, ist im Wohnturm der Schloss­anlage in Maienfeld zu finden, wo neben alttestamentlichen Erzählungen aus dem Samson-Zyklus vor allem höfische Szenen, etwa Turnier- und Minnemotive, geboten werden.

 

Die Kirche von Casti. (Foto parpan05/Wikipedia)

Dem Himmel nah

Die sakralen Gebäude mit den Fresken des Meisters finden sich bevorzugt an exponierten Plätzen, etwa auf Bergen mit einem weiten Blick, dem Himmel und damit auch Gott sehr nahe. Zu denken ist hier zum Beispiel an Sogn Gieri in Rhäzüns, an die Kapelle St. Maria Magdalena in Dusch ob Paspels, an die Kirchlein in Casti, Lüen und Clugin, aber natürlich auch an die Waltensburger Kirche. Für alle genannten Orte treffen diese Charakterisierungen zu. Der Meister und seine Auftraggeber scheinen ein ganz besonderes Gespür für die Auswahl solcher – jedenfalls nach dem Empfinden vieler heutiger Besucher – Kraft-Orte gehabt zu haben.

Wer aber war nun dieser Meister, der solche Spuren in Gestalt monumentaler gotischer Kunstwerke in dieser Gegend hinterlassen hat, die nach Einschätzung der kunsthistorischen Forschung zum Besten gehören, was aus dieser Zeit auf uns gekommen ist? Wir können uns einer Antwort auf diese Frage nur sehr indirekt nähern, da wir eben keine ganz konkrete historische Person namentlich identifizieren können, sondern mittels des Behelfskonstrukts «Waltensburger Meister», benannt nach dem Ort seines wichtigsten Werks und geprägt von dem Kunsthistoriker Erwin Poeschel (1884–1965), mit einem sogenannten «Notnamen» operieren müssen. Dennoch lassen sich aber verschiedene wichtige Aussagen zu dem meisterlichen Maler machen, von denen nachfolgend einige geboten werden sollen.

 

Die Kirche Sogn Gieri, Rhäzüns, liegt auf einem Hügel. (Foto Adrian Michael/Wikipedia)

Kein Einzelner

So muss er sozusagen der «Chef» einer grösseren Mal-Werkstatt gewesen sein, denn die Vielzahl der Werke war mit Sicherheit nicht von einer einzigen Person zu bewerkstelligen, zumal wenn man bedenkt, dass die Fresken, die ja auf einem feuchten Putz aufgetragen werden mussten, immer nur in der Sommerzeit gefertigt werden konnten, da ansonsten der Frost in den Bergen die Werke gleich wieder zerstört hätte. Das Arbeiten mit dem nassen Putz bedingte übrigens auch die sogenannte Tagwerk-Technik, die immer nur die Arbeit an einem bestimmten überschaubaren Abschnitt zuliess. Die «Nähte» dieser Tagwerkabschnitte sind an vielen Stellen noch zu erkennen.

Er wird verschiedene Gesellen und Gehilfen in seiner Werkstatt beschäftigt haben, die die einfacheren Arbeiten ausführten, während die Feinarbeit (wie Gesichter, Hände, Faltenwürfe der Gewänder) dann vermutlich vom Meister selbst getätigt wurde. Auch dass er die zumindest für diese Gegend relativ neue Fresko-Technik in solcher Vollendung zur Anwendung bringt, lässt vermutlich einige weitergehende Schlüsse zu. Dies ist ja eine Technik, die über den Süden, konkret über Italien, ursprünglich aus Byzanz kam. Vermutlich war der Meister in seinen Wanderjahren als «fahrender Geselle» weit gereist, war im Süden mit die­ser Fresko-Technik bekannt geworden, und war dann aus uns nicht mehr bekannten Gründen hier in Nordbünden sozusagen «hängen geblieben» – vielleicht stammte er ja ursprünglich aus dieser Gegend, vielleicht aber lernte er auch auf seiner Wanderschaft durch diese Gegend eine Frau kennen und lieben, die ihn dazu veranlasste, hier in dieser Region sesshaft zu werden oder … Wir können hier nur spekulieren, da wir dazu keine genaueren Informationen besitzen.

An Aufträgen für seine Werkstatt herrschte aber offenbar kein Mangel, betrachtet man die Vielzahl seiner Werke in dieser Gegend. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, welch potenter, ja virtuoser Künstler hier wirkte, denn zu nicht wenigen Orten kamen Aufträge herein.

 

Die Kapelle St. Maria Magdalena in Dusch ob Paspels. (Foto Adrian Michael/Wikipedia)

Woher kam das Geld?

Aber auch hier stossen wir schon wieder auf einen Bereich, zu dem wir nichts Genaueres wissen und sagen können: Wer waren denn seine Auftraggeber? Waren es hochgestellte geistliche Herren, waren es adlige Patrone von Kirchen und Kapellen oder …? An einigen Stellen seines Werks baut er sogenannte Stifterfiguren in seine Kompositionen ein, die vermuten lassen, dass es sich im konkreten Fall um Adlige handelte, die die Arbeiten beauftragt haben und sich mit diesem frommen Werk auch vor Gott Verdienste erwerben wollten, die sie ihrer Überzeugung nach der ewigen Seligkeit näherbrachten, zumal ja die Angst vor ewiger Verdammnis im Mittelalter recht weit verbreitet war. Solche Stifterfiguren finden wir etwa in Rhäzüns links von der sogenannten «Schutzmantel-Madonna», unter deren schützendem Mantel sich Gläubige (vielleicht Familienmitglieder der Stifter) versammelt haben, die Maria anrufen.

Auch was die Inhalte seiner Malereien betrifft, können wir nur spekulieren. Immer wieder geht es um Szenen vom Leben und Sterben Jesu Christi oder Begebenheiten aus den Viten der Heiligen, die ja im Mittelalter immer gegenwärtig waren. War etwa der Meister selbst theologisch gebildet?! Denn hinter seinen Fresken sind ausgeklügelte theologische Gedankengebäude erkennbar. Oder – was wahrscheinlicher ist – waren die Programme der Ausmalung der Sakralbauten durch die jeweiligen konkreten Auftraggeber vorab festgelegt worden, sodass der Meister gleichsam nur ausführendes Organ war, mit recht wenig eigenem Gestaltungsspielraum? Dieser letztgenannte Fall war im Mittelalter wohl das Übliche: Die Auftraggeber hatten meist sehr konkrete Vorstellungen von dem, was gemalt werden sollte und was der Maler dann mit seinem künstlerischen Geschick umzusetzen hatte.

Bei den vom Meister auszumalenden sakralen Gebäuden handelte es sich im Normalfall um romanische Bauten mit grossen zusammenhängenden Wandflächen, die nicht durch grössere Fenster, wie später in der Gotik üblich, durchbrochen werden. So bot sich dem Künstler genügend Raum, den er mit seinen Fresken ausgestalten konnte. Die in späterer Zeit bisweilen in die ursprünglich romanischen Kirchen eingefügten grösseren Fenster zerstören dann mitunter wieder die Fresken des Meisters. ­Dies gilt etwa auch für die Waltensburger Kirche, in der der Einbau eines grossen gotischen Fensters die an der Südfassade angebrachte Christophorus-Darstellung des Meisters fast gänzlich eliminierte.

Künstler oder Handwerker?

Uneins ist die Forschung auch im Blick auf die sozusagen «berufliche Einordnung» des Waltensburger Meisters. Ist er eher als Handwerker oder dann doch als Künstler einzustufen? Dass er sein «Handwerk» ganz virtuos beherrschte, das ist sicherlich unumstritten, und so sollte man vermutlich auch keine Scheu davor haben, ihn als «gestandenen» Künstler zu bezeichnen. Die Qualität seiner Fresken rechtfertigt eine solche Bezeichnung wohl allemal. Zu bedenken ist wohl auch, dass die uns heute geläufige Differenzierung zwischen Handwerker und Künstler damals noch nicht so ausgeprägt war.

Im Blick auf die zeitliche Verortung des Werks des Waltensburger Meisters gab es lange Zeit sehr viel Unsicherheit. Man vermutete, dass er seine Werke zwischen ca. 1320 und ca. 1340 verfertigt hatte. Für keine seiner Fresken konnte das Entstehungsjahr bestimmt werden. Dies sollte sich dann in den letzten Jahren ändern. Der Autor dieser Zeilen hat in der Waltensburger Passion und an einer damit verknüpften Sebastians-Darstellung wahrscheinlich machen können, dass für den Meister in diesem Werk die Pest- und die Juden-Thematik eine Rolle gespielt haben. Und da in Mitteleuropa die Pest erst nach 1347/48 aufgetreten ist, legt sich wohl auch der Schluss nahe, dass zumindest die Waltensburger Passionsdarstellung erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sein kann.

Aber mit solchen «Fakten» sind wir dann weitgehend auch schon an das Ende unseres Wissens um die Person des Waltensburger Meisters gelangt. Dass sich ein Künstler als konkrete individuelle Person zu erkennen gibt, dies ist ja erst ein Phänomen der Renaissance-Zeit, wenn etwa ein Albrecht Dürer sehr selbstbewusst seine Werke mit seinen Initialen «A. D.» signiert. Der Waltensburger Meister gehörte jedoch noch nicht zu dieser selbstbewussten Generation von Renaissance-Künstlern, sondern – stilistisch betrachtet – in die Zeit des späten Mittelalters. Er tritt noch vollständig hinter seinem Werk zurück, verbleibt also in der Anonymität.

 

Weitere Infos

Horst F. Rupp ist Theologe und Religionspädagoge und lehrte bis 2015 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Für die «Terra Grischuna» widmet er sich in einer Serie dem Waltensburger Meister.
Literatur Alfons Raimann, Gotische Wandmalereien in Graubünden. Die Werke des 14. Jahrhunderts im nördlichen Teil Graubündens und im Engadin. Desertina Verlag Disentis 1983.