Wenn ein Haus ­erzählen könnte

Kolorierte Ansicht der Villa Planta, später Chesa sur l’En. Gezeichnet von Baumeister Nicolaus Hartmann St. Moritz 1882. (Foto: zVg)

Chesa sur l’En St. Moritz von Cordula Seger
Die Villa Chesa sur l’En wurde 1882–1883 erbaut. Sie war Ferienhaus, Genossenschaftsherberge, Familienhotel und ist heute privater Wohnsitz. Ein neues Buch, ein edler Bildband, zeichnet die Biografie des Hauses nach.

Die Villa Chesa sur l’En wurde 1882–1883 erbaut. Sie war Ferienhaus, Genossenschaftsherberge, Familienhotel und ist heute privater Wohnsitz. Ein neues Buch, ein edler Bildband, zeichnet die Biografie des Hauses nach.

Der Bauherr Jacques Ambrosius von Planta, 1826–1901, verkörperte in Herkunft und Auftritt das neue Selbstverständnis der ­Re­gion. Der weltgewandte Unternehmer in Alexandrien kehrte mit seiner Familie als Tourist ins Tal seiner Vorfahren zurück. Mit dem Bau des Chalets, seinem Märchenschlösschen mit Turm, wurde er zum Wegbereiter einer neuen gesellschaftlichen ­Bewegung, dem individuell gelebten Tourismus der vermögenden Gesellschaftsschicht aus dem In- und Ausland. Familie Abegg, die heutigen Eigentümer und Bewohner des Chalets, eröffnete der Autorin Cordula Seger mit Gesprächen und Einblicken einen Mikrokosmos. Briefe und Tagebücher, erzählte Erinnerungen und Fotografien, Bilder und Möbel machen Vergangenes lebendig. Viele Fäden laufen hier zusammen, von der Tourismusgeschichte des Engadins und Graubündens, verbunden mit wirtschafts- und sozialhistorischen Gesichtspunkten, bis hin zum architektonisch und künstlerischen Blickwinkel. Baumeister Nicolaus Hartmann senior entwarf und erbaute zusammen mit Alexander Kuoni, Architekt und Inhaber einer Chaletfabrik, die Villa im Auftrag der hoch angesehenen Familie von Planta. Die Welt kam zu Gast. Künstler wie Giovanni Segantini und Giovanni Giacometti hinterliessen Spuren und trugen zum Gesamtkunstwerk bei.

Nicolaus Hartmann, 1838–1903, war im touristisch aufstrebenden Engadin am Ende des 19. Jahrhunderts der Mann der Stunde. Eine solide Ausbildung, die aus dem Handwerk herausgewachsen war, Kontakte zu den Eliten des Kantons, gestalterische Beweglichkeit, unternehmerisches Geschick und Verlässlichkeit zeichneten ihn aus und brachten ihm grosse Aufträge ein, die er weitgehend eigenständig verwirklichen konnte. Seine Bauten wie die seiner Nachkommen trugen dazu bei, St. Moritz in einen mondänen ­Kurort mit internationaler Ausstrahlung ­zu verwandeln. Die Aufbruchstimmung für neue Lebensformen ging Hand in Hand ­damit einher. Ferien im Luxushotel und ­der Zweitwohnungsbau ­kamen in Mode.

Die Recherchen der Autorin sind umfassend und beziehen auch Geschichten über Persönlichkeiten mit ein, was das Buch zur spannenden Lektüre macht. Man liest es ­stellenweise wie eine Familiensaga, ohne den roten Faden zur «Biografie eines Hauses» zu verlieren. Das Buch ist eine Publikation des Instituts für Kulturforschung Grau­bünden.

Zur Autorin

Cordula Seger, geb. 1970, wuchs in Chur auf, studierte und lebte in Zürich und Berlin, wo sie unter anderem ihre Dissertation über Grand Hotels als Schauplatz der Literatur abschloss. Berufliche und private Gründe führten sie zurück in die Schweiz. Kulturlandschaften durchstreifen, Räume erleben, lesen und schreiben, das macht Cordula Seger besonders gerne. Dabei gehen Beruf und freie Zeit oft ineinander über. Seit 2017 leitet sie das in Chur beheimatete Institut für Kulturforschung Graubünden. Dieses ermöglicht Grundlagenforschung vor Ort und für den Ort. Graubünden ist ein Kanton mit reicher Geschichte und verfügt über bedeutende Quellenschätze. Es passiert hier viel auf engem Raum und oft anders, als von aussen vielleicht gedacht.
Wichtig erscheint der Wissenschaftlerin die Vernetzung über die Region und die Schweiz hinaus. Graubünden empfindet sie nicht als Grenzkanton, sondern als Zentrum des ­Alpenbogens. Immer schon hat der Kulturaustausch in den Bergtälern eine wichtige Rolle gespielt, man denke an die Mehrsprachigkeit, die Musik oder die Migration. Die am Institut für Kulturforschung laufenden Projekte bringen diese Vielfalt zum Ausdruck. Die Themen reichen von Linguistik, Tourismusgeschichte, Architektur bis zur Ethnologie. Cordula Seger sagt: «Graubündens Geschichte ist vielstimmig und mehrsprachig und deshalb auch so spannend. Die Bündner Bevölkerung ist zudem sehr interessiert, und so ist es möglich, nahe mit und bei den Leuten zu forschen.»

Cordula Seger: Chesa sur l’En. Biografie eines Hauses. AS Verlag, 2020, 200 Seiten. Bildband gebunden, CHF 58.–.

Elisabeth Bardill