«Alles habe ich gesehen, nur keine Kanonade!»

Schweizer Grenzbesetzung am Umbrailpass 1914–1918, Feld­arzt beim Impfen. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bild­archiv/Fotograf: Staub, Rudolf/HSA_0004-12-014/CC BY-SA 4.0)

Die Schweizer Grenzbesetzung am Umbrail von 1914/15 bis 1918
Grenzen als historische Konfliktlinien sind auch in der Archäologie ein wichtiges Thema. In Graubünden wurden in den letzten Jahren die Reste der Grenzbefestigung aus dem Ersten Weltkrieg am Umbrail dokumentiert.
Text 
Thomas Reitmaier

Grenzen und Grenzräume bilden in der Archäologie seit Langem ein bestimmendes und vielschichti­ges Thema. Sie treten in unterschiedlichen Formen in allen Zeiten auf, sei es allgemein als «Kultur»- oder Verbreitungsgrenzen und damit in erster Linie als moderne wissenschaftliche «Kon­strukte». Sie existierten aber auch als reale, mehr oder minder scharf ausgeprägte Trennlinien sowie als natürliche oder künstliche Barrieren. Der Kanton Graubünden stellt als alpiner Grenzraum zwischen dem Mittelmeerraum und den Gebieten nördlich der Alpen diesbezüglich einen besonders geeigneten Forschungsgegenstand dar. Die Bündner Berg- und Passlandschaften waren niemals ein unüberwindbares Hindernis für die Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen, sondern im Gegenteil verbindende Elemente von intensiv genutzten inner- und transalpinen Passagen. Das verdeutlichen bereits jene subtilen Spuren, die Menschen vor vielen Jahrtausenden auf der Jagd oder auf der Suche nach Rohstoffen im Alpenraum hinterlassen haben.

 

Schützengraben am Umbrail aus der Zeit 1915/18. (Foto: ADG)

Ab der Bronzezeit kam es – vor etwa drei bis vier Jahrtausenden – zu einer intensiven Aufsiedelung der inneralpinen Täler durch bergbäuerliche Gemeinschaften, die mancherorts vom Kupferbergbau oder transalpinen Handel profitierten. Bereits damals zeichnet sich eine räumliche Dreiteilung des späteren Kantonsgebiets ab mit kulturellen Einflüssen aus verschiedenen Richtungen. Inwieweit sich hinter diesen, lediglich an materieller ­Kultur festgemachten Grenzen reale, eigenständige Gesellschaften und Identitäten verbergen, wird heute mit Vorsicht beurteilt. Es ist wohl vielmehr von gut vernetzten und stark interagierenden Kultur­räumen auszugehen. Zu allen Zeiten zentral waren indes die alpinen Wege und Pässe und die damit verbundene Kontrolle von Handel und Verkehr sowie der Zugang zu wichtigen Ressourcen. Die zunehmende Ordnung und Organisation menschlicher Aktivitäten und der steigende Raumanspruch haben immer wieder soziale und territoriale Abgrenzungen und in Folge auch Konflikte gefördert.

Archäologie der Moderne

Grenzen sind aber nicht nur inhaltliches Thema der Archäologie, vielmehr haben sich auch die zeitlichen Grenzen des Fachs selbst verschoben, ja aufgelöst. So gehören heute auch Hinterlassenschaften des 19., 20. und mitunter bereits des 21. Jahrhunderts zum Aufgabengebiet der Archäologie, die dann als Zeitgeschichtliche, Historische oder «Archäologie der Moderne» bezeichnet wird. Der besondere Wert von derart jungen (Be-)Funden liegt vor allem darin, komplementäre, korrigierende oder alternative Perspektiven auf die scheinbar gut bekannte, aber immer fragmentarisch und subjektiv überlieferte Zeitgeschichte zu ermöglichen. So sind anhand materieller Relikte neue Erkenntnisse zu unserer jüngsten Vergangenheit zu gewinnen.

 

Die Schweizer Grenzbefestigungen am Umbrail mit dem Schützengraben – im Hintergrund das Stilfserjoch und der Ortler. (Foto: ADG)

Ein wichtiges Thema sind in diesem Zusammenhang die noch sichtbaren oder bereits verschwundenen Spuren beider Weltkriege bzw. des Kalten Kriegs. Schauplätze, ja ganze Landschaften von Kriegen, Konflikten und Terror, Bunker, Befestigungen, Front- und Grenzlinien, bombardierte Stadtteile, Konzen­trations- und Arbeitslager, Massengräber und Gefal­lene, Wracks von Schiffen und Flugzeugen oder Gedenkstätten sind häufig mit traumatischen ­Geschehnissen und negativen Konnotationen verbundene Erinnerungsorte. Die archäologische Freilegung und didaktische Präsentation der nach dem Wendejahr 1989 rasch beseitigten Berliner Mauer als ikonisches Symbol einer zweigeteilten Welt ist eines der besten Beispiele wissenschaftlicher Aufarbeitung und damit einhergehender Erinnerungskultur.

In der von den beiden Weltkriegen weitgehend verschont gebliebenen Schweiz bildet bekanntlich die bewaffnete Neutralität das zentrale politische Konzept, die hier im 20. Jahrhundert eine besonders ausgeprägte, indes weitgehend verborgene Landschaft, materielle (Erinnerungs-)Kultur sowie spezifische Mentalität geschaffen hat. Davon ­zeugen u. a. 35 000, als Folge der Armeereformen «aus­ser Dienst» gestellte militärische Kampf- und Füh­r­ungsbauten, die neben den zugehörigen Hochbauten, Anlagen der Luftwaffe und unterirdischen Versorgungsanlagen seit 1993 schweizweit inventarisiert sind.

 

Schweizer Offiziersposten «Punta di Rims» auf knapp 3000 m, im Hintergrund der Ortler. (Foto: Staatsarchiv Graubünden, FN VIII A/75)

Die Grenzbesetzung am Umbrail

Im kollektiven Gedächtnis weniger verankert und in der Landschaft vergleichsweise wenig sichtbar ist heute die Zeit von 1914 bis 1918. Obwohl nicht unmittelbar in die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs verwickelt, erlebte der neutrale Kleinstaat Schweiz die viel zitierte «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts als grossen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und mentalen Einschnitt. In Grau­bünden boten die an den «Grossen Krieg» erin­nernden Gedenkjahre 2014/18 Anlass, wichtige und archäologisch bislang unbeachtete Spuren der Schweizer Grenzbesetzung der Jahre 1914/15 bis 1918 zu dokumentieren. Besonders markant tritt diese «warscape» am Umbrailpass (2500 m ü. M.) in Erscheinung, der das Münstertal mit Bormio (I) und dem Veltlin (I) resp. über das unweit gelegene Stilf­serjoch (2757 m ü. M.) mit dem Oberen Vinsch­gau (I, damals Österreich-Ungarn) verbindet. Mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 entstand an der öster­reichisch-ungarischen Reichsgrenze eine 600 km lange Front, an der ein erbitterter Hochgebirgskrieg geführt wurde. Davon militärisch nicht direkt betroffen, leisteten Tausende Schweizer Soldaten ­(insgesamt dreizehn Infanterie- und Gebirgs-­Infan­terie-Bataillone) am Umbrail ihren Landes­ver­tei­digungsdienst zur Sicherung der Grenze. Sie wurden so zu Zeugen des höchstgelegenen Nebenkriegsschauplatzes des Ersten Weltkriegs.

Die zahlreichen und an der Oberfläche noch gut sichtbaren Reste des Schweizer Truppenlagers, die zugehörigen Küchen-, Stall- und Magazinbauten sowie die Latrinen, ausgedehnte Weganlagen, eine Soldatenstube, ein Steinbruch und ein Krankenhaus erzählen heute vom militärischen Alltag jener Tage. Als Kernstück der Grenzsicherung diente den Soldaten der circa 1,5 km lange und 1,8 m tiefe Schützengraben respektive eine Wehrmauer mit Splitterschutz und Brustwehr. Von der Bündner Passhöhe bis in über 3000 m Höhe sind als Ruinen sämtliche militärischen Stellungen sowie die Unteroffiziers-, Wach- und Beobachtungsposten erhalten, die oft unmittelbar neben der italienischen Grenze angelegt wurden. Der Dienst in grosser Höhe stellte harte Anforderungen an die vielfach aus dem Flachland stammenden Soldaten, besonders während der Wintermonate mit Temperaturen bis − 30 Grad. Persönliche Bild- und Schriftquellen sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache und erzählen vom soldatischen Alltag.

Die tatsächliche Komplexität moderner Grenz­konflikte wird für das Umbrailgebiet schliesslich durch einen besonderen Einzelfund augenscheinlich: Der Zürcher Historiker M. Beck entdeckte in den 1950er-Jahren oberhalb des Stilfserjochs eine in mehrere Teile zerbrochene Marmor-Gedenktafel ungarischer Infanteristen von 1918.  Diese auch an den Besuch von Kaiser Karl I. im Jahr 1917 erinnernde, in deutscher und ungarischer Sprache abgefasste Memoria war wohl während des Zweiten Weltkriegs von Italienern entehrt und die Trümmer über die ehemals österreichische und nunmehr italienische Flanke der Dreisprachenspitze geworfen worden. Die geborgene Tafel wurde restauriert und – auf neutralem Schweizer Boden angebracht – 1976 erneut eingeweiht. Sie und ein militärhistorischer Wanderweg künden heute von einer nicht allzu fernen Kriegszeit.
 

Alte und neue Grenzen

Fluchtgeschichten, Menschenschicksale, Geflüchtete, Versteckte, Internierte, Schlepper, Schmuggel, Grenzgänger – die Auflösung und die durch die aktuelle Pandemie zuletzt wieder erstarkten nationalstaatlichen Grenzen, Grenzen als sensible Indikatoren für Ungleichheit und Konflikte, die physische Veränderung und der damit einhergehende Bedeutungswandel künstlicher Grenzen als kulturelles und soziales Phänomen und dessen Materialisierung eröffnen ein Themenfeld, das auch für unsere heutige Lebenswelt von elementarer Bedeutung ­ist. Von solchen Trennlinien im Zeitenlauf zeugen auch jene Graffitis, die ein namenloser Schutz­suchender am aktuellen Standort des Archäologischen Dienstes Graubünden angebracht hat – in einer Zeit, als das Gebäude an der Loestrasse 26 als Unterkunft für Asylsuchende diente.

 

Weitere Infos
Autor

Thomas Reitmaier ist Kantonsarchäologe von Graubünden.