Ein Ziel, viele Wege

Wanderstrecke Zürich–Chur. (Karte: Werner Forrer und Schweizer Wanderwege)

Zu Fuss von Zürich nach Chur
Wer von Zürich nach Chur – oder umgekehrt – reist, nimmt meist das Auto oder den Zug. Dabei gäbe es viel zu entdecken auf den 150 Kilometern, die die beiden Hauptstädte trennen. Wanderexperte Werner Forrer hat den Weg unter die Füsse genommen.
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Text und Bilder Werner Forrer

Ein bekanntes Sprichwort lautet: «Es führen viele Wege nach Rom.» Trifft dies aber auch zu, wenn man von einer Kantonshauptstadt (Zürich) zur anderen (Chur) gelangen möchte? Soll es ein möglichst kurzer Weg sein, dann wird man mit dem Auto die A3 und A13 oder mit der Bahn die direkte ICE-Strecke benutzen, um möglichst rasch ans Ziel zu kommen. Doch wie sieht es aus, wenn man die Strecke zu Fuss zurücklegen möchte? Auch wer eine möglichst direkte Route wählt, dem steht eine ordentliche Wegstrecke bevor. Zahlreiche Leser fragen sich jetzt bestimmt, wer denn so etwas überhaupt machen würde? Bekanntermassen gibt es an den Zürcher Hochschulen eine nicht zu unterschätzende Anzahl Studierender aus dem Kanton Graubünden. Zahlen von Ende 2013 gehen davon aus, dass ungefähr jede/jeder 30. Studierende aus Graubünden stammt (Quelle: Bündnerclub Zürich). Und genau aus diesen Kreisen habe ich dem Bekanntenkreis schon entnommen, dass sie bei einem erfolgreichen Studienabschluss einmal von Zürich zurück in die Heimat Graubünden wandern werden. Ob das wirklich jemand gemacht hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis …

Rechts oder links um den See?

Deshalb zurück zum Sprichwort ganz am Anfang. Ja, es gibt eine ganze Anzahl verschiedener Routen oder eben Wanderwege, die von Zürich nach Chur führen. Startet man zum Beispiel am Zürcher Hauptbahnhof und wandert Richtung See, muss man sich spätestens beim Bürkliplatz oder am Belle­vue entscheiden, ob es entlang dem rechten Seeufer und somit der Goldküste oder auf der linken Seeseite weitergehen soll (Anmerkung: Die Uferseite wird in Fliessrichtung angegeben). Die zweite Frage lautet, ob man gemütlich und nahe am Ufer wandern möchte oder lieber eine strengere Variante in der Höhe mit entsprechender Aussicht in Betracht zieht.

Für meine Wanderung von Zürich nach Chur, selbstverständlich nicht an einem einzigen Tag, habe ich beschlossen, zu Beginn den Zürichsee-Rundweg mit der durchgehenden Markierung Nr. 84 zu begehen. Diese Route bietet alles, was ein Wanderherz erfreut. Da die Signalisation nicht beim Hauptbahnhof beginnt, besteige ich die S4 und gelange so in 15 Minuten nach Zürich-Manegg. Gleich nach dem Start führt die Wanderung entlang dem rechten Ufer der Sihl und schon bald bewege ich mich im Grünen. Zwischen Adliswil und Langnau am Albis bietet sich Gelegenheit, dem Wildnispark Zürich Langenberg einen Besuch abzustatten. Carl Anton Ludwig von Orelli schuf 1869 den Wildgarten im Langenberg als «bleibende Städte des Genusses». Damit ist der Langenberg der älteste Schweizer Tierpark. Nach diesem Abstecher folgt kurze Zeit später das Besucherzentrum im Sihlwald, wo sich ein Aufenthalt ebenfalls lohnt (Infos unter www.wildnispark.ch). Weiter geht es über den Seerücken mit spannenden Einblicken in naturbelassene Wälder und zum Höhenweg mit tollen Aussichten auf den Zürichsee. Bald darauf ist Horgen erreicht.

 

Bei Hurden auf dem Seedamm, Blick zum Obersee.

Königsetappe über den Etzel

Der nächste Abschnitt bis nach Richterswil ist ein typischer Seeuferweg. Unterwegs gibt es Möglichkeiten zum Baden, Einkehren oder Feuern. Als Höhepunkt und wahres Bijou am Zürichsee darf sicher die Halbinsel Au mit Schloss, Park und Naturweiher bezeichnet werden. Danach folgt die eigentliche Königsetappe des Zürichsee-Rundwegs über den geschichtsträchtigen Etzel, wo sich am 5. Mai 1439 Zürcher und Schwyzer ein Gefecht lieferten. Es war die erste militärische Auseinandersetzung des Alten Zürichkriegs und markierte die Wende zu einer neuen Phase damaliger offener Feindseligkeit. Davon ist beim Berggasthaus Etzel-Kulm auf 1098 Meter über Meer heute zum Glück nichts mehr zu spüren. Lieber geniesst man bei einem Trank die Aussicht über den ganzen See. Hoppla, beinahe hätte ich vergessen zu erwähnen, dass ich mich seit der Dorfdurchquerung in Richterswil im Kanton Schwyz befinde. Via Etzelpass und Luegeten geht es wieder abwärts bis nach Pfäffikon. Beim Bahnhof verlasse ich nun den Zürichsee-Rundweg und wähle den hindernisfreien Holzbrücke-Seedamm-Weg Nr. 849, welcher ans gegenüberliegende Ufer und ins Städtchen Rapperswil führt. Die Strecke lässt das Herz jedes Naturfreundes höherschlagen, da eine wunderbare Weitsicht über die Ebene mit blühenden Feldern und Wiesen sowie der glitzernde Zürichsee unwillkürlich Feriengefühle vermitteln.

Bündner Brücke nach St. Gallen

Mit dem Begriff «Holzbrücke Rapperswil-Hurden» werden zahlreiche Seequerungen sowohl aus prähistorischer wie aus neuerer Zeit bezeichnet. So entdeckte man im Zusammenhang mit archäolo­gischen Sondierungen Pfähle, die aus der Frühbronzezeit um 1525 v. Chr. stammen. An dieser Stelle die zahlreichen Bauten aufzuzählen, die in den Jahrhunderten entstanden und wieder verschwunden sind, würde den Rahmen bei Weitem sprengen. Erwähnenswert ist hingegen, dass zwei Bündner massgeblich am Bau des 841 Meter langen, am 6. April 2001 eröffneten Pilgerstegs beteiligt waren. Für die Architektur zeichnete Reto Zindel, Architekt ETH, aus Chur verantwortlich und das bekannte Ingenieurbüro Walter Bieler AG aus Bonaduz sorgte als Spezialist für Holzbau für das gelungene Tragwerk. Im Jahr 2007 wurde das Bauwerk von der sia (schweizerischer ingenieur- und architektenverein) mit der Auszeichnung «Umsicht» belohnt.

Kaum habe ich den Steg betreten, verlasse ich den Kanton Schwyz. Jetzt befinde ich mich auf St. Galler Hoheitsgebiet und damit bereits in einem Nachbarkanton von Graubünden. Stolz grüsst das Schloss etwas erhöht über der Rosenstadt Rapperswil. Auf engem Raum findet sich der Hafen, ein Kloster, ein Schloss, eine Hochschule für Technik und nicht zu vergessen Knies Kinderzoo. Somit also genügend Möglichkeiten, hier etwas länger zu verweilen.

 

Schloss Rapperswil.

Pilgersteg, Blick Richtung Hurden/Pfäf­fikon/Etzel.

Dem Linthkanal entlang

Weiter geht es auf dem Obersee-Uferweg Nr. 973, der ebenfalls hindernisfrei und somit auch für Rollstuhlfahrer benutzbar ist. Die Strecke durch eine idyllische Landschaft auf ruhigen, abgelegenen Wegen dem schillernden See entlang bis nach Schmerikon ist eine wahre Augenweide. Hier am Ende des Oberen Zürichsees gilt es abzuwägen, wie es weitergehen soll. Zahlreiche Möglichkeiten sind vorhanden, ich entscheide mich für die rund 18 km lange Variante entlang des Linthkanals bis nach Weesen am Walensee. Der Weg verläuft meist schnurgerade durch die Linthebene, die immer wieder von Hochwassern überflutet wurde. So zwängte man die Linth in den Jahren zwischen 1807 und 1816 in ein Korsett und gab dem Fluss so die Laufrichtung vor. Bei der damaligen Gewässerkorrektion war mit dem Safientaler Richard La Nicca auch ein Bündner Ingenieur an der Planung beteiligt. Zwischen 2008 und 2013 führten Flussausweitungen und Ufer­renaturierungen zurück zu einer ursprünglicheren Linth und es entstanden auch natürliche Gewässer, Riedflächen und Blumenwiesen.

Die Wanderung von Weesen bis zum mediterranen und autofreien Quinten ist wohl schon hundertfach beschrieben worden. Zu erwähnen sind das schmucke Dorf Betlis mit der Ruine Strahlegg, der über drei Kaskaden stürzende, 585 Meter hohe Seerenbachfall und die gleich daneben liegende Rinquelle. In Quinten entschliesse ich mich kurzerhand zu einer Schifffahrt bis nach Walenstadt, ein wenig Erholung kann ja nicht schaden. Das nächste Teilstück mit je 800 Höhenmeter auf- und abwärts via Tscherlach, Berschis und durch die Wälder des Unterbergs bis nach Sargans hat es dann wieder in sich. In Sargans stellt sich nochmals die Frage, wie weiter bis nach Chur? Um vom nördlichsten Punkt nach Graubünden «einzufallen», mache ich noch eine Schlaufe ins benachbarte Liechtenstein nach Balzers. Die ausführliche ­Beschreibung dieser vorletzten Etappe finden Sie, liebe Leser, anhand des Wandertipps in dieser Ausgabe der «Terra Grischuna». Anschliessend an die Guscha-Wanderung folgt das liebliche Schlussstück auf dem Weinwanderweg von Maienfeld mitten durch die Rebberge der Bündner Herrschaft, von Zizers und Trimmis bis nach Chur.

Und ganz zum Schluss bleibt die Frage, ob es sich lohnt, einmal im Leben von Zürich nach Graubünden zu wandern. Ich sage ja, es lohnt sich wirklich, die rund 150 km zu Fuss zurückzulegen. Allerdings rate ich davon ab, dafür nur einen einzigen Tag zu verwenden. Die Distanz ist das eine, daneben gibt es unendlich viel zu sehen, sodass es schwierig wird, alle Eindrücke in so kurzer Zeit komplett zu verarbeiten.
 

Kapelle St. Meinrad bei Bolligen am oberen Zürichsee.

Auf Guscha, Blick ins Sarganserland.

Auf dem Weinwanderweg bei Jenins.

Weitere Infos
Autor

Werner Forrer ist selbstständiger Wanderleiter mit eidg. Fachausweis und Vorstandsmitglied der BAW Bündner Wanderwege. Seit 2017 verfasst er die Wandertipps in der «Terra Grischuna». Er lebt in Igis. www.wanderbaer.ch