Immer höher, immer weiter

Dicht in der Höhe, Freiraum in der Waagrechte: Das Belmont-Hochhaus im Lacuna-Quartier. (Foto: Domenig Immobilien AG)

Der Architekt Thomas Domenig senior
Niemand hat das Stadtbild von Chur geprägt wie Thomas Domenig senior. Auch mit 86 ist der streitbare Architekt emsig wie eh und je. Er kanns einfach nicht lassen.
Text 
Julian Reich

Thomas Domenig stopft sich eine Pfeife, zündet sie an und schaut zu, wie sich der Rauch durch die Luft schlängelt. Er sitzt an seinem schweren Schreibtisch auf einem dunklen Ledersessel, an der Wand hinter ihm der mittlerweile notorische Stadtplan von Chur, auf dem er sie markiert hat, die Gebäude, die er gebaut hat in den rund 60 Jahren, in denen er als Architekt tätig ist. «Und das sind nicht einmal alle», sagt er, und lacht sein dröhnendes Lachen. «Hier ist alles Chef», hat die grosse Schweizer Journalistin Margrit Sprecher einst über dieses Büro geschrieben. Und so ist es.

 

Der Mann mit dem Plan: Im Büro von Thomas Domenig senior, im Hintergrund der Stadtplan von Chur. (Foto: Marco Hartmann)

Wir wollen über ein besonders wichtiges Projekt reden, das Domenig realisiert hat, ganz am Anfang seiner Karriere, als er zurückgekehrt war aus Zürich und dem Studium an der ETH: das Lacuna-Quartier, eine eigene Stadt für 4000 Menschen, aus dem Churer Rheinboden gestampft zwischen 1964 und 1976. Nach heutigen Massstäben kostete es etwa eine halbe Milliarde Franken, finanziert wurde die Summe ausschliesslich privat.

Wer war dieser Thomas Domenig, damals noch mit dem Zusatz «junior», der da aus Zürich kam in die Kleinstadt am Rhein, obwohl ihm sein Professor doch geraten hatte, in die USA zu gehen, dort könne man gross bauen, sicher nicht in Chur? 1958 war das, Domenig gerade 25 Jahre alt, im Gepäck hatte er moderne Ideen, die er bei seinen Mentoren Hans Hofmann und William Dunkel entwickelt hatte, Städtebau, grosse Volumen, aber konzentriert, damit Freiflächen entstehen. Schluss mit dem alten Mief der Reihenhäuser und Wohnblöcke, in die Höhe, zur Sonne sollte es gehen.

«Damals wollte ich einfach loslassen, meine Ideen umsetzen. Aber was tut man als junger Student ­ohne einen Cent in der Tasche?» Man steigt beim Vater ein, bei Thomas Domenig senior (1898–1991), der in Chur ein Büro hatte, hier und dort ein Einfamilienhaus bauen durfte oder eine Anlage für die Armee in der Surselva. Mit befreundeten Unternehmern hatte der Vater Land in der Rhein­ebene erworben, sie planten eine Überbauung, Wohnblöcke im gewohnten Stil. Aber der Junge hatte andere Ideen.

Es entstand der Solariapark: 300 Wohnungen in zwei Hochhäusern à 17 Stockwerken und einer Reihe von lang gestreckten Blockbauten. Es war die erste Grossüberbauung Churs, möglich gemacht durch das erst 1960 angenommene Hochhausgesetz der Stadt. Bei dessen Formulierung hatte Vater Domenig massgeblich mitgearbeitet, sass er doch in der vorberatenden Baukommission.

 

Heimat für rund 4000 Menschen: Blick ins Lacuna-Quartier. (Foto: Domenig Immobilien AG)

Hochkonjunktur und Wohnungsnot

Der Solariapark warf Geld ab, das die Domenigs sofort wieder investierten. Gleich nebenan erwarben sie – gemeinsam mit anderen Investoren – die 66 000 Quadratmeter, auf denen sich der junge ­Domenig noch radikaler verwirklichen sollte. Das Lacuna-Quartier mit seinen über 1000 Wohnungen in den sieben Hochhäusern und 23 Mehrfa­milienhäusern ist bis heute das wohl prägendste Bauprojekt in Chur des 20. Jahrhunderts. Um die Entstehung von Lacuna I und II zu begreifen, muss man einen Blick in jene Zeit werfen. Chur ritt auf der Hochkonjunkturwelle, die Wirtschaft brummte, die Bündner stiegen aus den Tälern in die Stadt hinab, wo es Arbeit gab und die Annehmlichkeiten der Moderne. Doch in Chur herrschte akute Wohnungsnot, weshalb die politischen Behörden die Pläne der Domenigs für mehr Lebensraum in der Rheinebene unterstützten (und dafür auch mal ein Auge zudrückten, wenn es um Ausnützungsziffern und andere Vorgaben ging).

Die Fertigstellung der Überbauung warf national hohe Wellen. Chur war plötzlich an vorderster Front der auch andernorts gepflegten neuen Art des Wohnungsbaus. Die grosszügigen Grundrisse der Wohnungen sorgten für viel Licht, die vertikale Verdichtung für viel Grün – lediglich etwas mehr als 20 Prozent des Bodens sind überbaut. Doch schon bald wurde der «Hochhauswahn» auch kritisch gesehen. In die euphorischen, zukunftsgläubigen Stimmen mischten sich Bedenken über die Wohnlichkeit solcher Bauten und Widerstand keimte auf. Domenig hatte Chur in die Zukunft gebracht – nur sollte diese Zukunft bald wieder Vergangenheit sein.

In der Stadt verfolgte man die Bautätigkeit von Vater und Sohn Domenig mit Argusaugen. Ein Zirkel um den Architekten Richard Brosi – in Zürich noch Studienkollege Domenigs – gründete einen Verein namens «Aktion wohnliches Chur», der sich gegen viele von Domenigs Pläne wehrte und dafür sogar eine Reihe von Initiativen startete. Kritik vonseiten der Denkmalpflege erntete Domenig auch für seine Umbauten am Martinsplatz, das Hotel City und das Zoppi-Haus, wo er nur wenig Gespür für das Gesamtbild der Altstadt zeigen wollte. Das Parkhaus unter dem RhB-Park löste gar einen Sturm der Entrüstung aus – vergeblich. Denn beteiligt an diesem Bauprojekt waren nicht nur Private und die RhB, sondern auch die Stadt selbst. Einer ihrer Vertreter sass sogar im Verwaltungsrat.

 

Der Mann mit der Pfeife: Thomas Domenig senior. (Foto: Marco Hartmann)

Taktik, Macht, Baulust

Von der Altstadt liess Domenig bald ab, die Widerstände verdarben ihm die Lust. Mittlerweile war das Büro auch so zum dominierenden Immobi­lienimperium Churs erwachsen, dies dank einer «Kombination von Geschäftstaktik, finanzieller Macht und ungebremster Baulust», wie die Architekturhistorikerin Carmelia Maissen in ihrem Buch «Hochhaus und Traktor» schreibt.

Domenigs Geschäftsmodell: Das Geld, das man verdiente, floss sogleich wieder in neue Projekte. Verkauften die Domenigs anfänglich ihre Bauten weiter, wurden sie bald selber zu Besitzern und ­Vermietern. Und die Familie immer reicher. Auf ­eine halbe Milliarde Franken schätzte das Magazin «Bilanz» das Vermögen vor ein paar Jahren. Doch Domenig liess sich herausnehmen aus der Liste der 300 Reichsten der Schweiz. «Heute wären wir viel weiter vorn», sagt er, aber wenn das bekannt werde, würden noch mehr Bettelbriefe eintreffen als ohnehin schon. Das Heft mit dem goldenen Titelbild liegt heute hinter ihm in einem Büroregal.

Mit dem Erfolg einher ging auch der Neid, sagt ­Domenig. Wenn man ihn fragt, ob es ihn schmerzt, nie die Anerkennung der Architekturkritik erhalten zu haben, die viele seiner Zeitgenossen bekamen, sagt er: «Ach, wir haben doch mehr erreicht als alle anderen zusammen. Ich erhalte ja viel Zuspruch, und zwar von den Bewohnern der Häuser, die sind zufrieden, und das ist das einzig Wichtige. Nicht was diese grünen Neidhammel sagen.»

Glaspalast und Pyramide

So sieht es der Architekt und Bauherr, wer jedoch durch Chur fährt und sich die Glaspaläste und ­Pyramiden anschaut, wer vielleicht einmal darin gearbeitet oder gelebt hat, kommt unweigerlich zu einem differenzierteren Schluss. Carmelia Maissen urteilt so über das Werk der Domenigs: «Während viele ihrer  Bauten aus den Siebziger- und Achtzigerjahren architektonisch belanglos und städtebaulich oft nicht unproblematisch waren – ihre ­eilige Gestaltung schien allein der Gewinnoptimierung zu folgen –, genügen die städtebauliche Konzep­tion und architektonischen Qualitäten der Lacuna einem Anspruch, der die Siedlung auszeichnet und bis heute Bestand hat.» Zumindest Letzteres sieht auch Domenig so.

Ohnehin, heute sei er nur noch konzeptionell tätig, die Architektur machen die beiden Söhne, und wenn man schaue, was die beispielsweise mit dem Rocks Resort in Laax auf die Beine gestellt haben, das sei erstklassig. «Dafür hätte es Preise geregnet, wenn es von so einem Hungerleider gemacht worden wäre.»

Bürokratie und Bundesordner

Thomas Domenig, heute «senior»: vom Studenten ohne einen Cent in der Tasche zum Multimillionär – wäre eine solche Karriere heute noch einmal möglich? «Nein, sicher nicht», sagt er bestimmt. Und er nennt die Gründe: Damals herrschte Hochkonjunktur, heute Bürokratie. Bereits seit mehr als zehn Jahren plane er nun ein neues Hochhaus, doch es gehe kaum vorwärts. Waren früher drei Amtsstellen beteiligt, gingen Baugesuche heute über den Tisch von 15 Dienststellen und Ämtern. Zur Illustration zieht Domenig einen Bundesordner hervor, schlägt einen Brief der Stadt auf und zeigt die Namen und Abkürzungen der Briefempfänger. Darunter, feinsäuberlich in Architektenschrift, die Zahl 15, zweimal unterstrichen.

Und dann die Beschwerden: «Wer etwas plant und dann mit Einsprachen konfrontiert ist, wird blockiert. Da kann einem bald das Geld ausgehen, denn die Löhne der Mitarbeiter musst du ja trotzdem bezahlen.» Zum Glück habe man mittlerweile eine Grösse erreicht, mit der man solche Behin­derungen ausgleichen könne, sagt er. Beispielsweise beim Bau des geplanten Grosskinos, der sich ­wegen Einsprachen monatelang verzögerte. Aber ­Domenig ist sich sicher, dass auch dieser Bau kommen wird, früher oder später.
86 ist er jetzt, hat ausgesorgt für sich und seine Kinder und Kindeskinder, lebt drei Monate im Jahr in seiner Lodge in Namibia, in der man Wildtieren beim Fressen zusehen kann, sein Name prangt am Hallenstadion von Chur, die beiden Söhne kümmern sich um das Tagesgeschäft – warum legt ­Thomas Domenig nicht einfach die Beine hoch?

«Bei mir geht es immer um das Projekt. Wenn ich ins Büro komme um zu arbeiten, fühle ich mich nicht wie 86. Die Arbeit, das ist der Genuss, den ich suche», sagt er, und zieht an der Pfeife.

 

Weitere Infos

Carmelia Maissen: Hochhaus und Traktor. Siedlungsentwicklung in Graubünden in den 1960er- und 1970er-Jahren, Scheidegger & Spiess, 2014. | Thomas Domenig (Hg.): Die Stadt. Die Architekten. Die Bauten. Condrau, 1995. | Thomas Domenig (Hg.): Die Bauten II. 2009

www.domenig.ch