Moesano – eigenständig und doch nahe am Tessin

Moesano / Misox

Roveredo als Zukunftshoffnung einer neuen Entwicklung. (Foto: Yanik Bürkli)

Eine Region zwischen zwei Welten
Die zwei westlichsten Südtäler Graubündens, das Misox und das Calancatal erleben seit Jahren – ja Jahrzehnten – einen Umbruch. Das touristische Angebot ist beschränkt, die eigene Wirtschaft schwächelt, die Region wird zusehends zu einem Durchfahrtsland und die meisten Bewohnerinnen und Bewohner gehen ihrem Broterwerb im Nachbarkanton Tessin nach.
Text 
Christian Dettwiler

Wer durch das Südportal der San Bernardino-Route auf der A13 fährt, sieht rechter Hand nach wenigen Metern eine eigentliche Ruine: die Bergbahnen San Bernardino. Die Gebäude sind heruntergekommen, die Anlagen stehen seit sechs Jahren still; für Neuinvestitionen werden rund 40 Millionen Franken benötigt, die niemand in die Hand nehmen will. Was einst das Skiparadies der Tessiner und der Einwohner der Lombardei war, ist heute eine Ruine. Eine Boulevardzeitung titelte vor zwei Jahren: «Das trostloseste Skigebiet der Schweiz». Viele Hotels und Restaurants sind geschlossen – also nichts wie weg gen Süden und für den Schneesport nach Norden. San Bernardino bleibt nur mehr der Sommertourismus.
Das ist auch das Motto so mancher Bewohner der Mesolcina. Sie schätzen zwar die Wohnqualität der Talschaft, aber die meisten arbeiten nicht mehr im Tal selber, sondern an Arbeitsstätten im Tessin. Der Präsident von Grono, einer Fusion der namensgebenden Gemeinde Grono mit Verdabbia und Leggia, Samuele Censi, sieht die Entwicklung sehr kritisch. Der gelernte, 38-jährige Geograf und Sportlehrer ist ein engagierter Politiker in der Region – er ist auch Präsident der Organisation «Regione Moesa». Seine Familie betreibt den fast letzten industriellen Wirtschaftsbetrieb im Misox, die Zubehörteile für die Eisenbahnindustrie, namentlich für die SBB und die RhB produziert. In diesem Betrieb ist er noch zu 50 Prozent tätig.
Laut Samuele Censi pendelt ein grosser Teil der Bevölkerung ins Tessin, vor allem Mitarbeitende von Banken und Versicherungen, aber auch Lehrer. Hingegen kommen Arbeiter aus dem Tessin und Norditalien als Bauarbeiter, Handwerker oder Hilfskräfte in der Gastronomie ebenfalls als Pendler ins Misox. Die Arbeitsplätze sind aber beschränkt, das Misox entwickelt sich zusehends zu einem Schlafort für die überbevölkerte Gegend rund um Bellinzona.
Als Lehrer sieht er aber auch die Problematik der Ausbildung: Rund 80 Prozent der Schüler gehen nach der Grundschule für eine weitere Ausbildung ins Tessin – im Misox fehlt es an schulischen Infrastrukturen. 20 Prozent der Schüler gehen übrigens nach Nordbünden, wodurch erhebliche Kosten für die Familien entstehen.

Samuele Censi

Samuele Censi, der Sindaco von Grono. (Foto: zVg)

Wirtschaftliche Entwicklung

Durch die Schliessung der Val-Moesa-Werke (Monteforno/Von Roll) gingen im Misox Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. Das bedeutete letztlich auch das Aus für die Eisenbahnverbindung der Rhätischen Bahn von Mesocco nach Bellinzona und förderte die Abwanderung von Arbeitskräften ins Tessin. «Innovative Ideen», so Samuele Censi, «sind gefragt.» Massnahmen sind beispielsweise in Roveredo geplant, wo nach der Eröffnung der Umfahrung, die bisherige Autobahn (Trassee der A13) zu einer Ansiedlungszone für neue Betriebe und/oder als Wohngebiete umgenutzt werden soll. Auch in Grono ist die Erschliessung einer Industriezone geplant – allerdings ist nicht bekannt, wer als Investor auftreten kann. Unter anderem ist die Nutzung der riesigen Holzreserven der Region in Form einer Pelletfabrik geplant – gleichzeitig ist aber auf dem Gemeindegebiet von Grono und Lostallo die Errichtung einer Waldschutzzone von mehreren Tausend Hektaren geplant – ein Widerspruch in sich!
Ein Ausbau der Wasserkraftnutzung durch AXPO ist ebenfalls in Planung, die Arbeiten wurden aber angesichts der Schwierigkeiten in der Elektrowirtschaft gestoppt. Dazu kommt, dass die lokalen Fischer, unterstützt von der Pro Natura und anderen Umweltverbänden, Opposition gegen die Reduktion der Wassermenge der Moesa angekündigt haben.

​Chancen für die Jugend

Samuele Censi sieht für Jugendliche kaum ein Potenzial im eigenen Tal, Arbeitsplätze sind rar, eine Infrastruktur für Teleworking besteht kaum – also sind auch die Jugendlichen zur Abwanderung oder zum Pendeln gezwungen. Und eine eher nebensächliche Problematik: Durch den Druck, in Nordbünden Englisch als zweite Schulsprache einzuführen, sieht er das Italienisch und die Chancen in der Politik namentlich für Junge gefährdet!

​Das Calancatal als Potenzial

Rodolfo Keller, ehemaliger Stadtpräsident von Illnau-Effretikon ab 1974 während 24 Jahren, hatte bereits 1972 die Idee, dass sein Wohnort eine Patenschaft für eine Gemeinde übernehmen sollte. Er wandte sich an die Schweizer Organisation «Patenschaft für Berggemeinden». Die Organisation wurde 1940 von einem Ärztepaar (Paul und Olga Cattani) gegründet. In den ersten Jahren vergab die Organisation rund 300 000 Franken, in den besten Jahren 1981 bis 1995 waren es gesamt 150 Mio. Franken. Zurzeit sind es jährlich immer noch 25 Mio. Franken. Keller fragte nach der ärmsten Gemeinde und stiess auf Landarenca im Calancatal – damals eine Gemeinde mit 20 Einwohnern, die nur mit einer Seilbahn zu erreichen war und es heute noch ist. So lernte der SP-Politiker den Ort kennen und als Stadtpräsident setzte er die Patenschaft um. 
Die gesamthaft 750 Bewohner des Calancatals sind vornehmlich nach Bellinzona orientiert, die meisten jüngeren Bewohnerinnen und Bewohner sind Pendler. Mit Ausnahme der Steinbrüche für den bekannten Gneis aus dem Tal, der aber vornehmlich von rund 40 Pendlern aus umgekehrter Richtung (Saisonarbeiter aus Portugal und Italien) abgebaut wird, gibt es kaum etwas Nennenswertes an heimischem Gewerbe. Auch die Landwirtschaft spielt eine untergeordnete Rolle, es gibt noch rund zehn Landwirtschaftsbetriebe mit Spezialisierung auf Milchwirtschaft mit Kühen und Geissen. Die meisten davon sind Selbstvermarkter und werden vor allem durch deutschsprachige Zuwanderer betrieben – ein Erbe der grossen Zeit der Longo-Maï-Bewegung.
Rodolfo Keller ist auch heute im stolzen Alter von 70 Jahren ein Querdenker, der sich gerne mit den Behörden anlegt: Als in Chur entschlossen wurde, den Finanzbeitrag an die lebenswichtige Seilbahn zu streichen, setzte er sich vehement für die Weiterzahlung ein und fand in der entsprechenden Verordnung einen Passus, der Chur zur Zahlung verpflichtete. Desgleichen mit der Abwasserentsorgung – die Lage von Landarenca ist so, dass eine Kanalisation nicht realisierbar ist, also verbot der Kanton sämtlich bauliche Interventionen. Indes: Das eidgenössische Gewässerschutzgesetz sieht vor, dass bei Gemeinden mit weniger als 200 Bewohnern Ausnahmeregeln getroffen werden können – doch Chur will das nicht einsehen. Keller bleibt kämpferisch. Auch mit den Verfassern der Studie zur alpinen Brache, dem ETH-Studio Basel rund um Marcel Meili und dem Büro Herzog & de Meuron hat er sich angelegt. Diese haben dem Calancatal kaum Überlebenschancen eingeräumt und haben nachgewiesen, dass das Brachland Calancatal langfristig eine Gefährdung des unteren Misox bis hin nach Bellinzona bedeuten wird. Zumindest die Pendler belegen das Gegenteil.

​Überlebenswillen oder Abwanderung

​Überlebenswillen oder Pendeln? Letztlich ist die Frage eh müssig, denn die Grenze zwischen Moesano und Tessin ist sowieso ein historisches Kuriosum: Die Herrscherfamilie Sax-Misox verkaufte die Herrschaftsrechte des Misox nach Mailand, worauf sich die Misoxer wehrten und die Herrschaftsrechte für 25 000 Golddukaten zurückkauften und sich den Drei Bünden – sprich Graubünden – anschlossen.

​Und der Tourismus?

Die Misoxer stehen dem Tourismus eher verhalten gegenüber, nicht zuletzt auch, weil die Infrastruktur fehlt – keine Hotels, wenig qualitätsvolle Restaurants. Ein Beispiel ist das Hotel «Calancasca», ein Haus mit 160-jähriger Tradition, aber mit einer völlig veralteten Infrastruktur. Trotzdem wäre das Potenzial vorhanden (Fluss für Kanufahrer, Passwanderung z. B. durch die Seitentäler ins Valchiavenna). Das führt zu Camping- und Tagestourismus, wovon wenig im Tal bleibt.

Keller Calanca

Rodolfo Keller, früher Stadtpräsident von 15000 Einwohnern, heute Präsident in Calanca mit knapp 200 Einwohnern. (Foto: Karin Hofer/NZZ)

Weitere Infos

Autor: Christian Dettwiler ist Redaktionleiter der «Terra Grischuna», er lebt in Flims. Der Artikel basiert auf ausführlichen Gesprächen mit den Gemeindepräsidenten von Grono und Calanca, Samuele Censi und Rodolfo Keller

Online:
www.moesa.ch
www.calanca.ch