Strassenfahrt durch die Jahrhunderte

Tunnel im Verlorenen Loch bei Thusis.

Eine Spurensuche
Von Chur bis Bellinzona und Chiavenna führte die erste Kunststrasse Graubündens, die von 1818 bis 1823 erbaut worden ist. Noch heute finden sich da und dort Überreste der einstigen Pioniertat.
Text und Bilder 
Julian Reich

Wer sich in Chur auf die Suche nach Spuren der einstigen Commercialstrasse macht, wird nicht eben reichlich fündig. Nimmt man die ursprüngliche Strassenführung zum Ausgangspunkt, müsste man beim Obertor beginnen. Dieses und die nachfolgenden Meter sind seit jeher vielbefahrene und deswegen auch vielbebaute Abschnitte einer Strasse, die heute kaum mehr erkennbar ist. Die Obertorbrücke von 1821 wurde 1931 und 2010 restauriert, verstärkt und schliesslich mit einem Kreisel erweitert. Wer die alte Substanz erkennen möchte, muss also schon ganz genau hinschauen. Wer sodann stadtauswärts, genauer in Churs Westen, die Augen umherschweifen lässt, erblickt bald einmal ein Strassenschild mit einem eigenartigen Namen: Comercialstrasse. Wann und wohin das zweite «m» verschwunden ist, wissen wir leider nicht. Den massgeblich am Stras­senbau beteiligten Ingenieur Richard La Nicca ist vor wenigen Jahren eine neue Strasse gewidmet worden, unten auf der Rossbodenebene. 

Strassenschild in Chur.

Über Felsberg, Ems, Reichenau, Bonaduz, Rhäzüns und Cazis ist sodann wenig Originales vorhanden. Hier waren die Strassenbauer späterer Generationen fleissig, wenn auch der Verlauf der Strasse noch vielerorts dem ursprünglich projektierten entspricht. Bis 1958, als die Nationalstrasse gebaut wurde, führte der gesamte Nord-Süd-Verkehr hierüber. 

Im Verlorenen Loch.

In Thusis angelangt, wird man als Wegsuchender jedoch vielfach belohnt. Die heutige Neudorfstras­se wurde erst nach dem grossen Dorfbrand von 1845 angelegt, entsprang aber ebenfalls dem Kopf des Kantonsingenieurs La Nicca. Zur Bauzeit der Commercialstrasse 1823 führte der Zugang nach Thusis noch oben über die Feldstrasse ins heutige Altdorf und von dort über die neue Nollabrücke ins Verlorene Loch. Dieses wiederum ist heute der noch am ursprünglichsten erhaltene Abschnitt der gesamten Commercialstrasse – wenn auch aus dem wenig erbaulichen Grund, dass sie durch den Bau des Crapteig-Tunnels aus dem Strassennetz des Kantons gefallen war und seither der aufwendige Unterhalt nur im beschränkten Mass möglich ist. Immerhin: Ein Projekt zur Instandstellung ist bereit, es wird Geld gesammelt und saniert. 

Der Abschnitt Verlorenes Loch ist ein wahres Geschichtsbuch des hiesigen Strassenbaus. Beim Bau der Commercialstrasse wurde der Weg gänzlich neu angelegt, zuvor führte er von Thusis nach Rongellen noch über den Bovel, was eine Gegensteigung beinhaltete – was die Planer um Giulio Pocobelli nun vermeiden wollten. Gemäss einer historischen Anek­dote war es der Dorfpfarrer, der den neuen Weg durch die Schlucht empfahl. Als Richard La Nicca, Pocobellis Gehilfe,1820 auf Hohenrätien Hochzeit mit seiner ersten Frau Ursula feierte, sollen die ­Arbeiter im gegenüberliegenden Verlorenen Loch ihm zu Ehren einige Sprengungen vorgenommen haben. 

Im Verlorenen Loch steht auch einer der ersten Strassentunnel des Kantons, doch wer meint, der Abschnitt habe seinen Namen von ihm, der irrt – er hiess schon vorher so. Heute ist der vielfach steinschlaggefährdete Weg nur noch ein Wander- und Veloweg, aber ein spektakulärer.

Die Rania-Brücke vor Zillis.

In der Viamala-Schlucht selber sind die Spuren der Commercialstrasse noch deutlich zu sehen, auch wenn hier gerade zuletzt grössere Instandstellungsarbeiten das Trassee teilweise ausgeweitet haben und die Brücken verstärkt worden sind. Äus­serlich ist vieles noch im Originalzustand, dahinter natürlich sind zeitgemässe Materialien verbaut, die für Dauerhaftigkeit sorgen sollen. Bei Fotografen beliebt sind die Brückenbauten, wobei diese aus früherer Zeit – die Wildener-Brücke von 1739 – und späterer Zeit – die Premoli-Brücke von 1935 – stammen. Die Wildener-Brücke, die in das Netz der Commercialstrasse integriert worden war, ist heute nur noch für Fussgänger begehbar. 
Beim südlichen Ausgang der Viamala-Schlucht treffen wir auf die Rania-Brücke. Diese wurde 1836 erbaut, nachdem ein grosses Unwetter die bis dahin genutzte Punt da Tgiern zerstört hatte. Von dieser ist weiter rheinaufwärts nur noch ein Brückenkopf erkennbar. Sie stammt vermutlich sogar aus dem Jahr 1473, als die Viamala erstmals befahrbar gemacht worden war. 
 

Ein Wegerhaus in der Roflaschlucht.

Die Strasse führt sodann nach Zillis und Andeer. Der schnurgerade Zulauf auf den Badeort war eine Neuanlage, zuvor führte der Weg von der anderen Seite des Rheins her ins Dorf. Hier sieht man noch heute die schon damals vorherrschende Gepflogenheit, die Strasse in den Dörfern zu pflästern – während sie ausserhalb mit Schotter belegt war. 
Schön und in zumeist originaler Führung ist sodann die Fahrt durch die Roflaschlucht, wo wir unter anderem zwei Wegerhäuser erblickten. Diese wurden von den Beauftragten für die Schneeräumung genutzt, als Unterstand, Material- und Übernachtungslager. Mit der Commercialstrasse wurden erstmals kantonale Richtlinien für Bau und Unterhalt von Strassen entwickelt und schriftlich festgehalten.

Das Rheinwaldner Törli.

Ein Kleinod ist das Rheinwalder Törli unterhalb von Sufers. Es steht just vor der Mauer des Stausees. Die Commercialstrasse führte damals noch auf dieser Talseite in den Süden, als der Stausee gebaut wurde, ging ein ganzer Abschnitt davon unter. Der überhängende Fels aber blieb und kann bestaunt werden. 

Zwischen Sufers und Splügen finden wir wiederum mehrere schöne Brückenbauten, bevor wir das Dorf auf ebenfalls schnurgerader Strasse erreichen. Hier natürlich stark überformt von der Nationalstrasse. Auf deren rechten Seite stehen noch zwei kleine Steinhäuser, die, so sagt man, als Dynamit-Lager für den Strassenbau gedient haben sollen. 
Splügen selbst ist ein Passdorf, das mannigfach von der Commercialstrasse geprägt worden war, was sich am Bodenhausplatz besonders zeigt. Hier wurde genächtigt, Waren umgeschlagen und umgestiegen. Und auch das alte Zollhaus steht hier noch. 

Der Spitzbogentunnel bei Splügen

Die Marmorbrücke am Splügenpass.

Wer nun den Weg Richtung Splügenpass einschlägt, der kommt nach den ersten Kehren – die nicht den originalen Verlauf nachzeichnen, sondern ebenfalls erst nach dem Unwetter von 1836 angelegt worden waren – an einer Tunnelöffnung vorbei. Besonders daran: Der Spitzbogen ist eine Seltenheit. Der Tunnel ist zwar noch da, doch zerfällt er langsam vor sich hin.

Genutzt wird hingegen das Marmorbrückli, auch dieses stammt von der Neuanlage nach 1836 und wurde aus dem Stein gefertigt, der wenige Hundert Meter weiter aus einem Steinbruch geschlagen wurde. Der sogenannte Splügner Marmor fand ­übrigens Verwendung beim Bau des Mailänder Doms. 

Spektakulär sodann die Kehren hoch zum Berghaus, die Ingenieur Carlo Donegani so anlegte, dass sie auch heute noch die beste Verbindung zwischen unten und oben darstellen. Vielfach ausgebessert und auch teils verbreitert, finden sich noch zahlreiche originale Mauerwerke. Oben angelangt, springt sodann die Lawinengalerie ins Auge. 1843 erst gebaut, diente sie in den Wintermonaten als Schutz vor Lawinen. Mit der Wintersperrung der Passstrasse nach dem Zweiten Weltkrieg verlor sie ihre Funktion – und nach und nach verfiel sie. Erst 2007 bis 2011 wurde sie restauriert und gesichert. Noch harrt sie Sinn und Zweck, aber Ideen sind vorhanden, wie man aus regionalen Kreisen hört. 
Auf der Passhöhe – neben Wegerhaus und Zollstation – steht ein Denkmal, das 1923 zum 100-Jahr-Jubiläum der Commercialstrasse errichtet worden ist. 

Die "neue" Landbrücke bei Hinterrhein

Von Splügen Richtung San Bernardino führt die Strasse wie ehedem von Dorf zu Dorf. In Nufenen etwa wurde erst vor wenigen Jahren die Pflästerung erneuert. Ab Hinterrhein hat dann die Nationalstrasse für die eine oder andere Beeinträchtigung gesorgt. Gleich beim Stützpunkt der Armee jedoch findet sich noch immer eine eindrückliche Brückenbaute: die neue Landbrücke, die sich über drei niedrige Bögen über den Rhein schlägt. Sie führt zu den Kehren auf den Pass hinauf, die von den Einheimischen walserdeutsche Namen erhalten haben wie etwa «dr Tschensch», «dr Marschol-Cheer» oder «d Tälli-Cheerä». Seit 2014 sind die Kehren dementsprechend beschriftet. Wer die Passfahrt weiterführt, entdeckt auf allen Seiten kleinere und grössere Zeugnisse der historischen Strasse – von den Tombini, den Entwässerungskanälen, bis zu bis heute respektive nicht mehr genutzten Brücken wie der Ponte Casott. 

Südlich des Passes führt die Strasse ebenfalls noch über weite Strecken der originalen Führung entlang, jedoch sind hier noch weniger Relikte als auf der Nordseite zu finden. Dennoch: Die Fahrt ins Misox und ins Tessin lohnt sich früher wie heute.

Weitere Infos
Literatur

Arne Hegland, Jürg Simonett: Strassen als Baudenkmäler. Kommerzialstrassen des 19. Jahrhunderts in Graubünden. Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, 1988. 
Susanna Kraus, Georg Jäger: Die Commercialstrasse über den Splügenpass. Somedia Buchverlag, 2013.