Ein kleiner, feiner Naturpark für die Südschweiz

Gebirge, Wald und Wiesen: Das Calancatal ist landschaftlich reich. (Foto M. Theus, Parco Val Calanca)

Der Parco Val Calanca
Mit dem Parco Val Calanca entsteht der erste Naturpark südlich der Alpen. Für das kleine Tal tun sich neue Möglichkeiten auf – aber allzu viel soll sich dennoch nicht ändern.
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Julian Reich

Noch weist noch kein eigenes Schild darauf hin, dass man einen Naturpark betritt respektive befährt, wenn man bei Roveredo die Abzweigung ins Calancatal nimmt. Noch ist der Parco Val Calanca ja auch nicht in Vollbetrieb. Zwar haben die Gemeinden Rossa, Calanca, Buseno und Santa Maria allesamt der Park-Charta zugestimmt, die Abstimmungen im Januar gingen alle mit hohen Ja-Anteilen über die Bühne. Jedoch wartet man noch auf das Ja aus Bern. 
Im Sommer oder Herbst wird es so weit sein, und dann wird er offiziell in Betrieb genommen, der erste Naturpark in der südlichen Schweiz. Und der kleinste noch dazu: knapp 140 Quadratkilometer, verteilt zwischen dem höchsten Punkt auf 3200 Metern und dem tiefsten auf 500 Metern über Meer. Vier Gemeinden sind dabei, zudem noch zwei kleine Gebiete, die auf dem Gebiet von Mesocco liegen. 560 Menschen leben im Parkperimeter, man sorgt sich wegen Überalterung und Abwanderung. Erstaunlicherweise wuchs die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in den letzten Jahren dennoch leicht. 

Denn eigentlich hat es nicht viel zu bieten, dieses wilde, immer mal wieder durch Felsstürze abgeschnittene Tal. Der Steinbruch Alfredo Polti ist der grösste Arbeitgeber der Region, es gibt einige Bauernhöfe, wenige Hotels und Bed & Breakfasts, aber viel Wald: Auf fast 50 Prozent des Perimeters stehen Bäume. Weitere grosse Gebiete sind Fels und Stein und wilde Natur. 

 

Auf Schusters Rappen lässt sich das Calancatal am besten erkunden. (Foto: M. Theus, Parco Val Calanca)

Aus der Asche des Parc Adula

Der Gedanke an einen Naturpark liegt nahe, betrachtet man sich die Ausgangslage. Und schon einmal war man nahe dran, als das Calancatal Teil des Parkprojekts Adula war. 2016 scheiterte dieses jedoch an der Urne, auch wenn die hiesige Bevölkerung zugestimmt hätte. Also baute man aus den Bruchstücken der Parkidee eine neue: Kleiner, feiner, und vor allem ein Naturpark statt ein Nationalpark soll es werden. Im Gegensatz zum Parc Adula sieht der Naturpark keine geschützte Kernzone vor und gilt vor allem als Instrument zu einer nachhaltigen Regionalentwicklung. 

Henrik Bang ist Direktor des Parco Val Calanca, in Teilzeit, er sitzt zudem für die SP in der Exekutive der Stadt Bellinzona. Nun teilt sich seine Woche in die Arbeit für die pulsierende Tessiner Hauptstadt und für das als Paradebeispiel für Peripherie dienende Calancatal. 

Der Forstingenieur und frühere Unternehmer war in den letzten Wochen viel unterwegs, um Gespräche mit dem Kanton und dem Bund zu führen. Und mit Medien. Denn der Entscheid für den Naturpark sorgte für ein unverhofft grosses Echo in den nationalen Medien. Ganz erklären kann er sich das auch nicht. Aber dass es sich um den ersten Naturpark südlich der Alpen handelt, dürfte ein Faktor sein. Ein Projekt im Tessin war bereits einmal gescheitert.

Der Lagh de Calvaresc. (Foto: M. Theus, Parco Val Calanca)

Budget von 1,2 Millionen

Um ein Naturpark-Label zu erhalten, sind viele Anforderungen seitens der Behörden zu erfüllen. Viel Papier, viele schöne Worte. Auch Bang kennt sie. Vier Handlungsfelder gibt es: Natur und Landschaft; Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung; Kultur und Umweltbildung; Management, Kommunikation und räumliche Sicherung. Und für jedes Feld die entsprechenden Massnahmen, Konzepte, Regeln zur Erfolgskontrolle. Auf bis zu 1,2 Millionen Franken jährlich soll das Budget steigen, rund eine Million davon stammen von Bund und Kanton. 

Viel lieber als über Papier und Zahlen aber spricht Bang über jene Projekte, die der Park in der Errichtungsphase bereits angestossen oder durchgeführt hat. Man hat gemeinsam mit Zivildienstleistenden eine Kastanienselve ausgeforstet und wiederhergestellt, der Zuwachs an Insekten ist gemessen, die Biodiversität erhöht. Man hat Trockenmauern in Scata-Calvari restauriert, wo vor Urzeiten der Hang terrassiert worden war und zuerst Weizen, dann Kartoffeln angebaut worden waren. Dies soll auch wieder geschehen, und die Produkte im Tal verarbeitet werden. Man hat Wege wiederhergestellt, Alp­weiden mit der Sense gemäht oder Arbeitseinsätze für Schulen und Unternehmen durchgeführt. Und Anlässe von Kulturvereinen unterstützt. 

Auch der Tourismus soll vom Naturpark profitieren, sagt Bang. Doch das ist ein Spagat: Eigentlich gibt es wenig Infrastruktur im Tal, um mehr Touristen anzulocken. Und viele möchten das auch gar nicht, schon gar nicht so, wie es in gewissen Tessiner Tälern zu- und hergeht mit Tausenden von Tagesgästen, die ausser Verkehr und Abfall wenig bringen. «Das ist auf keinen Fall das, was wir anstreben», sagt Bang, und will damit auch jenen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die es im Tal eben auch gibt: eine schweigende Minderheit zwar, aber doch. 

Biker wird man im Calancatal zumindest kaum je welche sehen, «dafür ist die Topografie nicht geeignet», sagt Bang. Sanfter Tourismus ist das Schlagwort, das dann fällt. Bang nimmt sein Handy hervor und zeigt ein Video über eine geführte Wanderung zum Thema «Waldbaden», eine Art Waldmeditation, bei der die Aufmerksamkeit ganz auf die Sinne und das Erfahren der Umgebung gelegt wird. 

Dass es wenig gibt in diesem Tal, das ist das eigentliche Verkaufsargument: Zur Ruhe kommen, Ablenkungen abstellen, die Sinne schärfen.

Kräuter, Fleisch und Ferien

Viel Ruhe findet man hier bereits jetzt, beispielsweise oben im autofreien Braggio auf der Azienda Refontana von Roland Wiederkehr und Katrin Stoll. Vor mehr als 35 Jahren liess sich Wiederkehr hier nieder, zuvor hatte er einige Sommer auf einer Alp im Calancatal verbracht. Der gelernte Mechaniker und Lehrer wurde zum Bauern, baute das fast unbewohnbare Haus um, ein Ferienhäuschen dazu, mittlerweile steht hier auch ein neuer Stall. Das Halten von Ziegen haben sie kürzlich aufgegeben, jetzt sind noch Kühe auf dem Hof, alle tragen ihre Hörner mit Stolz. 

Katrin Stoll, sie lebt seit zehn Jahren im Tal, macht Tee, die Kräuter stammen aus dem grossen Garten, der etwas unterhalb des Hofes angelegt ist, lange Reihen von Trockenmauern, auf den Terrassen wachsen Blumen, Beeren und eben Kräuter, je eine Mischung ergibt sich für jede Jahreszeit. Heute steht die Ferienwohnung leer, aber das ist sie sonst selten, gerade in der Hauptreisezeit ist sie durchwegs belegt. Die Leute geniessen die grandiose Aussicht auf die Berge und ins Tal, die fast ungestörte Ruhe (wenn nicht gerade im Steinbruch auf der anderen Talseite gesprengt wird, aber auch daran gewöhnt man sich). Und sie arbeiten hier und dort im Garten mit, wenn sie denn wollen. Für Familien, die einmal abseits von Plastik und Spassmaschinen Ferien machen wollen, scheint der Ort ideal.
Im letzten Jahr war das Schweizer Fernsehen unterwegs im Calancatal - auch in Braggio bei Stoll und Wiederkehr:

In Braggio leben Katrin Stoll, Roland Wiederkehr und ihre Tiere. (Foto: Julian Reich)

Beim Tee sprechen die beiden über das Leben im Tal, die Freuden und Mühen des Bergbauernlebens und über den Park. «Schaden tut er sicher nicht», sagt Wiederkehr, «aber ob er etwas nützt, das müssen die Parkmitarbeiter zuerst beweisen.» Er hat selber bereits mit dem Park gearbeitet, hat einen Hand-Sense-Kurs mitorganisiert oder Obstbäume mit Versicherungsmitarbeitenden gepflanzt. Stoll erhofft sich vom Park, dass er die Produzenten des Tals besser vernetzt, dass er Brücken schlägt zwischen den Dörfern und den Leuten. «Aber letztlich hängt es auch davon ab, ob genug Ideen aus dem Tal selbst kommen», sagt sie. 

Beide stehen sie positiv zum Park, aber nicht unkritisch. Was besser laufen könnte: Mehr Präsenz an den Anlässen im Tal, nicht nur bei jenen, die der Park selbst organisiert. Oder mehr Transparenz in Sachen Finanzen. «Die Gemeinden zahlen ja auch einen Teil des Budgets, das ist nicht alles nur Geld von aussen.» Und nur weil viel Geld vorhanden ist, heisst das noch nicht, dass es auch gut wird. Selber hätten sie ja auch mit wenig bis nichts angefangen, was je nachdem gar nicht das schlechteste sei: «Wenn wir ein neues Projekt anreissen, beginnen wir ganz klein und schauen erst mal, ob es funktioniert.» 
Schon länger funktioniert die Pfadfinderinnenstiftung Calanca, seit 1957 um genau zu sein. Dazu muss man mit der Seilbahn zurück nach Arvigio und dann weiter nach Cauco. Dort sitzen Marta Ostertag und Matthias Leuenberger in einer alten Stube in einem noch älteren Haus, die Decken sind niedrig, der Vorraum – eine ehemalige Küche – ist russgeschwärzt. 

Matthias Leuenberger und Marta Ostertag. (Foto: zVg)

Die Pfadfinderinnen machens vor

Seit zwei Jahren leiten Ostertag und Leuenberger das Zentrum der Stiftung. Sie organisieren Kurse, sorgen für den Unterhalt, die Finanzierung, die Kommunikation, «es ist ein unheimlich vielseitiger Job», sagt Leuenberger. Die Pfadfinderinnenstiftung geht auf den damaligen Bund Schweizerischer Pfadfinderinnen zurück, der hier ein Ausbildungszentrum einrichtete. Nach und nach kamen weitere Gebäude dazu, und längst sind nicht mehr nur Pfadfinderinnen gerne in Cauco zu Gast, sondern auch Familien und Schulen. Gerade die Lagerwochen im Sommer sind innert kürzester Zeit ausgebucht. 
Schon seit Langem bietet die Stiftung sowohl Naturkurse für Auswärtige an, als auch Anlässe für die Bevölkerung. Gerade kommen Ostertag und Leuenberger aus einem Treffen von Einheimischen, bei dem im Zweiwochenrhythmus gesungen wird. Es gibt auch Frauenabende oder ein Müttertreff, zudem ist unter dem Dach der Stiftung das Talarchiv angesiedelt, wo immer wieder Anlässe zur Geschichte der Val Calanca stattfinden.

Eigentlich also macht die Stiftung seit Jahrzehnten genau das, was der Naturpark nun machen will: sanften Tourismus, bei dem Leute von aussen mit der Natur, Geschichte und Kultur des Tals in Berührung kommen. «Ja», sagt Leuenberger, «die Ziele decken sich weitgehend. Und doch hilft der Park dabei, unsere Angebote qualitativ besser zu machen und zu kommunizieren.» Ostertag zeigt ein langes Faltblatt mit allen Anlässen, die in diesem Jahr geplant sind, viele davon werden in Zusammenarbeit oder mit Unterstützung des Parks umgesetzt. 

Die Stiftung also profitiert vom neuen Partner in der Region. Dieser hilft beispielsweise dabei, gewisse Angebote zu professionalisieren. Denn die Stiftung lebt vom ehrenamtlichen Engagement. Für das Kinderlager im Sommer ist es nun etwa so, dass man den Animatoren dank dem Park ein Weiterbildungswochenende finanzieren kann. Auch bei Ideen, die Leuenberger und Ostertag neu ins Tal gebracht haben, finden sie mit dem Park einen Ansprechpartner, etwa wenn es um die Machbarkeitsstudie eines Fernwärmenetzes geht.

Dass der Park noch in den Kinderschuhen steht, sehen auch Ostertag und Leuenberger – und verstehen auch die Kritik, die von manchen hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand geäussert wird. «Es wird von sanftem Tourismus gesprochen, aber was das genau ist, weiss eigentlich niemand», sagt Leuenberger. Einige Elemente fördern sowohl einen sanften Tourismus wie auch die Lebensqualität der Bevölkerung, wie z. B. gute ÖV-­Verbindungen, Wanderwege, einfache Unterkünfte, die zum Verweilen einladen, Kontakt zur Lokalbevölkerung und Zugang zu Lokalprodukten. Die Ideen und die Umsetzung müssen von der Bevölkerung aus kommen. Der Park kann uns dabei unterstützen.»

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