Retter der bedrohten Schätze

Eines der begehrten Rauch­quarz-­Gwindel aus dem Val Strem bei Sedrun. Grösse: 8 cm.

Der Strahler Patrick Reith aus Disentis
Er steigt auf Berge, kriecht in Klüfte und wühlt im Dreck: Patrick Reith aus Disentis ist einer der wenigen professionellen Strahler in Graubünden. Und findet Kostbarkeiten von grösster Schönheit.
Text 
Julian Reich
Bilder 
Archiv Reith

Es gibt sie noch, die Geschichten von den Menschen, die irgendwann als kleine Jungen einen Traum haben. Einen Traum, der sie nicht mehr loslässt, so sehr, dass sie ihm ihr Leben widmen. Patrick Reiths Geschichte ist eine solche, und sie begann, als er auf den 14. Geburtstag ein Buch geschenkt bekam. 

«Jäger des verborgenen Schatzes» stand auf dem Titel, fast wie beim Indiana-Jones-Film ein Jahrzehnt zuvor. Patrick Reith fand in diesem Buch einen Helden, der keine geringeren Abenteuer erlebte als Filmstar Harrison Ford. Theodosi Venzin heisst er, einer der bekanntesten Strahler der Schweiz, der schon so manchen Schatz aus den Tiefen geholt hat. Für Reith war bald klar, dass er das auch tun möchte, wenn er gross ist: auf Berge steigen, in Höhlen und Klüfte klettern, Kristalle suchen. 

Auf der gefährlichen Suche nach neuen Klüften unterhalb des Eisrandes. Doch das Risiko wird mit einer frischen und noch lehmigen Kristallstufe belohnt.

An einer Messe lernte er Venzin kennen, da war er vielleicht 15, und erklärte ihm, dass er gern mit ihm Strahlen gehen würde, wenn er einmal 18 sei. Venzin gab ihm die Telefonnummer und vergass ihn vermutlich. Reith vergass ihn nicht.

Berg- statt Bürowelten

Zuerst aber war Abitur angesagt, dann ein Studium, Kartografie sollte es werden, eine relativ normale, bürgerliche Laufbahn vorgezeichnet, die ihn wohl für immer in seiner Heimatstadt München gehalten hätte. Eines Tages aber, noch in der Uni, mitten in der Vorlesung, da schaute er hinaus, das Wetter war schön, ideal für eine Bergtour, und er beschloss, seine Sachen zu packen, dem Wohngenossen Lebewohl zu sagen und nach Graubünden zu fahren. Zu Dosi, wie er ihn mittlerweile nannte. 

Sechs Wochen lang nahm ihn Venzin mit auf seine Touren in die Täler rund um Disentis und Sedrun, den jungen, schmächtigen Mann, dem die Beine zitterten an den steilen Hängen, auf dem Rücken eine 30-Kilo-Bohrmaschine. Es waren seine Lehrwochen beim Meisterstrahler. 

Der Sommer über das Zuhause am Berg – auch wie hier bei einem aufziehenden Gewitter!

Die Lieblingsstücke sind verkauft

Wirkliche Berufsstrahler, die vom Kristallsuchen leben können, gibt es wenige in Graubünden, kaum eine Handvoll, Venzin und Reith eingeschlossen. Sie sind so etwas wie die letzten Abenteurer dieser Welt, immer auf der Suche nach Orten, an denen noch nie jemand war.
Seit bald 20 Jahren verdient Reith so sein Brot. Im Wohnzimmer seines Hauses in Disentis, wo er mit Frau und Sohn lebt, stehen Vitrinen, ausgestellt die schönsten Stücke. Obwohl. «Meine Lieblingsstücke sind verkauft. Denn was ich gerne mag, das mögen auch andere.» Er zeigt auf einen klaren, sehr flachen Kristall, der in der Vertikalen leicht gebogen ist, zugleich scharf an den Kanten, aber doch auch sanft gedreht. Ein Gwindel, sagt Reith, selten und begehrt. Schlüssig erklären, wie diese Form entsteht, kann sich die Wissenschaft nicht. 

Gefunden hat er ihn nicht einmal sehr weit entfernt von seinem Zuhause. In den letzten zwei Jahren war er meist am Piz Acletta unterwegs, gleich oben an Disentis, ein kleiner Berg, «aber wenn man genau schaut, kann man schöne Sachen finden». Mit dabei hat er seinen Strahlstock aus Titan, Meissel und Fäustel, ein Seil zum Abseilen. Sein Expeditionsmaterial. Oft biwakiert er vor Ort, ist dann bis zu 17 Tage draussen, trinkt Gletscherwasser. Er kriecht in Klüfte, wühlt im Dreck – und findet auch oftmals nichts. «Ich habe schon zwei Jahre lang gar nichts Brauchbares gefunden», sagt er. 

Was ihn fasziniert, ist dieser Moment, wenn er einen Stein findet, der über Millionen von Jahren dort oben langsam gewachsen ist, verborgen im Fels, «und ich meine das jetzt nicht esoterisch»: wenn er das Stück in der Hand hält, perfekte Kanten, reine Farben, etwas, das der Mensch nicht herstellen könnte, auch heute nicht, dann empfindet er Glück. «Dass die Natur so etwas hervorbringen kann, ist doch faszinierend.»

Aber ist das nicht Raubbau? Wird nicht Natur zerstört? Nein, sagt Reith, er sieht sich als Retter, als Konservator. «Die Klüfte, die wir finden, sind ja quasi an der Oberfläche. Da geht es noch 200, vielleicht 500 Jahre, und der Frost und die Witterung machten die Kristalle kaputt, würden wir sie nicht retten und konservieren.» So aber werden sie gesichert und für die Nachwelt erhalten. 

Reith kann dabei zusehen, wie sich die Natur verändert. Gerade in den letzten zehn Jahren sei der Wandel rasant verlaufen. Oft ist er am Brunnifirn unterwegs, jedes Jahr ist die Eisdecke dünner, das Gestein an den Nordseiten mehr in Bewegung. Er sieht es mit Sorge, auch wenn das schmelzende Eis zugleich neue Klüfte zugänglich macht. Wenn er aber sieht, dass statt gut begehbares Eis nur noch Geröllhalden übrig bleiben, stimmt das auch ihn nachdenklich, auch der zunehmenden Steinschlaggefahr wegen. Wie wird es wohl in 50 Jahren aussehen?

Frisch geborgene Rauchquarz­gruppe aus dem Val Giuv, Sedrun. Grösse: 15 cm.

Seltener Amethyst-Zepter vom Fiescher­gletscher, Fiesch, Wallis. Grösse: 7 cm.

Berufskollegen aus der Steinzeit

Wer mit Millionen Jahre alten Steinen beschäftigt ist, schaut auch mal zurück. Und erkennt, dass er in einer langen Tradition steht: Schon vor 8000 Jahren wurden im angrenzenden Uri und vermutlich auch in der Surselva Kristalle gesucht. Das belegen Funde aus dem Jahr 2013, als eine Kluft freigeschmolzen wurde, in der Geweihe, Kristallsplitter und Holzfragmente lagen. Archäologische Untersuchungen ergaben, dass an dieser Stelle um 7000/8000 und um 5800 vor Christus gestrahlt worden war. Damals dienten die Kristalle noch vornehmlich als Werkzeuge, vermutlich aber auch als Schmuck. 

Später begannen Hirten, in ihrer freien Zeit nach schönen Steinen zu suchen, um sich ein Zubrot zu verdienen. Erste professionelle Strahler sind wohl vor 200 Jahren aufgetaucht. Auf der Suche nach erfolgversprechenden Stellen begannen sie, sich mit Kletterseilen durch die Wände zu bewegen. Und im 20. Jahrhundert verbesserten sich die Materialien, die Seile wurden leichter, man benutzte Steigeisen und neue Sicherungshaken. Vormals unzugängliche Stellen wurden erreichbar, zum Abtransport kommt immer öfter der Helikopter in Einsatz.

Bündner Steine überall

Heute ist der Besitz von Kristallen eine Liebhaberei – und offenbar weltweit verbreitet. Auch wenn die Coronapandemie dazu führte, dass Reith kaum noch etwas verkaufen konnte, so erholte sich die Nachfrage anschliessend vollständig. Auch die Preise blieben stabil. «Dabei hatte ich schon Angst, als die Pandemie begann. Plötzlich fielen alle Messen aus, reisen konnte man nicht mehr, und ein Ende nicht absehbar.» Er bangte um seine Existenz.

Corona war aber auch eine Chance. Über soziale Medien trat er in den Austausch mit Sammlern aus der ganzen Welt, verkaufte bis nach Vietnam. Ohnehin sind Bündner Steine über den gesamten Globus verteilt, das grösste und beste Mineralienmuseum steht laut Reith in der libanesischen Hauptstadt Beirut. 

Und die grösste Mineralienmesse findet alljährlich im Winter in Tucson, Arizona statt. Die Wüstenstadt in den USA verwandelt sich für drei Wochen in das Zentrum der Mineralien- und Edelsteinszene. Auch Reith fliegt hin, hinaus aus dem Disentiser Winter und in die Sonne, als einer der wenigen, die alpine Steine anbieten. Seine Kunden sind Privatpersonen, vielfach aber auch Museen. Er nimmt noch einmal den Gwindel in die Hand, und man muss ein wenig an Indiana Jones und den Heiligen Gral denken. Er sagt: «Dieser Stein hier, der gehört ins Museum.»

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